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Sabihas Lied

Sabihas Lied

Titel: Sabihas Lied
Autoren: Alex Miller
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neuen Backstube kam mir im Nachhinein vor wie ein Willkommensgruß. Während ich mich zu erinnern versuchte, in welchem Gang welche Produkte zu finden waren, musste ich an das bezaubernde Lächeln dieser Frau denken. Vermutlich war mir eine Art verstohlene Freude anzusehen, als wüsste ich etwas, das außer mir keiner wusste; die Art von Gesichtsausdruck, die ich bei anderen nicht leiden kann.
    Süßes stand bei uns zwar so gut wie nie auf dem Speiseplan, aber auf dem Rückweg vom Supermarkt ging ich dennoch in die Backstube. Ich musste eine ganze Weile warten, bis ich an die Reihe kam. Es machte mir nichts aus. Außer der Frau hinter dem Ladentisch arbeiteten ein Mann Ende vierzig und ein kleines Mädchen mit, das höchstens fünf oder sechs Jahre alt war. Der Mann und das Mädchen trugen Tabletts voller Gebäck aus der Küche im hinteren Teil des Ladens, wobei der Mann die Kleine mit Rufen ermunterte und ab und zu eine Pause einlegte, um einen Kunden zu bedienen. Die Kunden waren alle auffallend guter Stimmung. Keine Spur jener Ungeduld, die normalerweise am Samstagmorgen herrscht, keiner, der sich vordrängeln wollte. Während ich im Stehen den Kuchenduft sowie die freundliche Atmosphäre genoss, fühlte ich an diesem winzigen Ort altmodischer Herzlichkeit eine große Geborgenheit. Das war sicher der Familie zu verdanken, die den Laden betrieb, dem bescheidenen Glück, das sie klug zu würdigen wusste, vor allem aber der Ausstrahlung dieser Frau.
    Als ich an die Reihe kam, bat ich sie um ein halbes Dutzend Sesamplätzchen. Ich sah zu, wie sie die Plätzchen aussuchte und eins nach dem anderen mit der Konditorzange in die Papiertüte steckte, die sie in der freien Hand hielt, wobei sie so konzentriert vorging, als verdiene der simple Akt, mich zu bedienen, ihre ganze Aufmerksamkeit. Sie war vielleicht Anfang oder Mitte vierzig, dunkelhaarig und sehr schön. Vermutlich stammte sie aus Nordafrika. Was mich aber noch mehr beeindruckte als ihre Schönheit war ihre Haltung. Sie erinnerte mich an die vollendete Höflichkeit, die man früher oft in Spanien antraf, insbesondere bei den Madrilenen, eine respektvolle Zurückhaltung, die vom festen Glauben an die Würde des Menschen zeugt; im heutigen Madrid begegnet man dieser Haltung nur noch selten, und wenn, dann lediglich bei älteren Leuten. Entsprechend reagierten die Kunden auf die liebenswürdige Zuvorkommenheit der Ladeninhaberin. Als sie mir die Tüte mit den Sesamplätzchen reichte und ich mich dafür bedankte, lächelte sie. Bevor sie sich abwandte, bemerkte ich eine gewisse Traurigkeit in der Tiefe ihrer dunkelbraunen Augen, Spuren eines längst vergangenen und begrabenen Kummers. Auf dem Heimweg fragte ich mich, welche Geschichte sich wohl dahinter verbarg.
    Später erzählte ich Clare von der Backstube und sagte so etwas wie: »Diese Leute haben eine Art kindlicher Unschuld an sich, findest du nicht?« Sie saß Zeitung lesend am Küchentisch, aß dabei ihr drittes Sesamplätzchen, nahm erst einen kleinen Bissen, betrachtete das Plätzchen und tunkte es schließlich in ihren Kaffee. Sie sei während meiner Abwesenheit mehrmals im Laden gewesen, erzählte sie, aber ihr sei daran nichts Besonderes aufgefallen, auch nicht an den Leuten, die ihn führten. »Er ist Lehrer«, sagte sie, als wäre damit jede Besonderheit von vornherein ausgeschlossen, und setzte ihre Lektüre fort. Ich überlegte noch laut, dass es sich um eine ganz einfache Liebesgeschichte handeln könnte, zwischen diesem kernigen Australier und seiner exotischen Gemahlin. Ohne von ihrer Zeitung aufzusehen, sagte Clare leise, aber voller Überzeugung, wie es ihre Art ist: »Liebe ist niemals einfach. Das weißt du doch, Dad.« Sie hatte natürlich recht. Ich wusste das nur zu gut. Und sie ebenfalls.
    Ein paar Tage später sah ich den Mann in der Bibliothek wieder. Er war mit seiner kleinen Tochter dort. In den folgenden Wochen traf ich ihn mehrmals in der Bibliothek an. Manchmal war er allein, saß an einem der Tische über ein Buch gebeugt. Meistens rannten Kinder herum, ließen ihr Zeug fallen und machten Krach, und ich war beeindruckt, weil ihn offenbar nichts vom Lesen ablenkte. Er las so, wie junge Leute lesen, vollkommen selbstvergessen. Daran zeigt sich doch eine gewisse Form von Unschuld, sagte ich mir – und verwahrte mich in Gedanken gegen Clares Zynismus.
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