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Sabihas Lied

Sabihas Lied

Titel: Sabihas Lied
Autoren: Alex Miller
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Ich versuchte, einen Blick auf die Bücher zu erhaschen, konnte aber nie den Titel ausmachen. Ab und an grüßte ich ihn, was er lediglich mit einem kühlen Nicken zur Kenntnis nahm. Vermutlich hatte er mich nicht wiedererkannt. Seine Hände waren groß, mit hervortretenden Adern. Schöne Hände, die von einigem Geschick zeugten. Auf mich wirkte er eher wie ein Handwerker als wie ein Lehrer; kein Grob-, sondern ein Kunsthandwerker. Der vielleicht mit Holz arbeitete, Musikinstrumente herstellte. Ich konnte mir gut vorstellen, wie diese Hände liebevoll ein Cembalo für seine schöne Frau bauten.
    Als er einmal das Buch zuklappte und aufstand, sah ich, wie groß er war. Er ging leicht gebückt, ich beobachtete, wie er mit einem Stapel Bücher unterm Arm die Bibliothek verließ, den Blick auf den Boden gerichtet, und fragte mich, wie er mit seiner so orientalisch anmutenden Frau zusammengekommen war.
    An einem warmen Sonntagnachmittag im Oktober, der sich mehr nach Sommer anfühlte als nach Frühling, traf ich ihn im Freibad. Ich war bereits mehrere Bahnen geschwommen und hatte neben mir einen anderen Schwimmer bemerkt, der im selben Tempo wie ich und auf identische Weise kraulte, immer dann die Arme aus dem Wasser zog und wieder hineintauchte, wenn ich es tat. Nachdem ich meine zwanzig Bahnen beendet hatte, blieb ich am seichten Beckenende stehen. Ich lehnte mich an den Rand und nahm die Schwimmbrille ab, als der andere ebenfalls stehenblieb. Ich erkannte auf Anhieb den Mann aus der Backstube, wollte mich jedoch nicht äußern, weil er bisher entschlossen schien, mich zu ignorieren. Zu meiner Überraschung sagte er aber guten Tag und fragte mich, ob ich regelmäßig schwimmen gehe. Ich sagte, das hätte ich mir zumindest vorgenommen. Sosehr mich der freundliche Austausch freute, fragte ich mich, warum er mir jetzt anders begegnete als zuvor.
    So lernten John Patterner und ich uns kennen. Indem wir Seite an Seite schwammen. Anschließend lud er mich zu einem Kaffee in die Freibadcafeteria ein. Beim Trinken sahen wir seiner Tochter zu, die gerade mit zwei Freunden aus der Vorschule Schwimmunterricht hatte. Ständig rief sie: »Guck mal, Daddy!«, und ständig erwiderte er: »Ich guck ja, mein Schatz.« »Sie ist wirklich sehr hübsch«, sagte ich. Da strahlten seine Augen vor lauter Stolz und Liebe, und ich erinnerte mich daran, wie Clare und ich miteinander umgingen, als sie in diesem Alter war, wie unglaublich nah wir uns damals waren, wie liebevoll, wie umsichtig wir unsere Freundschaft pflegten. All das begegnete mir nun bei John Patterner und seiner Tochter wieder. Sie hieß Houria. Als er sie mir vorstellte, sah sie mich mit großem Ernst an, und mir fiel auf, dass sie die Augen ihrer Mutter geerbt hatte. Ich weiß nicht mehr, worüber John und ich uns an diesem Tag unterhielten, aber ich weiß noch, dass der Kaffee im Pappbecher einen Beigeschmack von Chlor hatte. Als ich John zwei Wochen später in der Bibliothek begegnete, schlug ich vor, im Paradiso Kaffee zu trinken. Er schien sich über das Wiedersehen zu freuen.
    Danach trafen wir uns etwa alle zehn Tage auf einen Kaffee im Paradiso. Er fing an, mir ihre Geschichte zu erzählen, langsam, zögerlich, häppchenweise. Seine Geschichte und die seiner Frau Sabiha, der schönen Tunesierin, die er in Paris geheiratet hatte, als er ein junger Mann war und sie gerade mal den Kinderschuhen entwachsen. Und auch die wunderbare und entsetzliche Geschichte ihrer kleinen Tochter Houria. Inzwischen lebten sie in den zwei bis drei Zimmern über der Backstube. Viel Platz gab es dort oben sicher nicht. Die Küche hinter dem Verkaufsbereich im Erdgeschoss, wo Sabiha ihre köstlichen Kuchen und Kekse backte, nutzten sie auch privat. Von der Straße aus konnte man in die Küche hineinsehen. Wenn ich mit Stubby, Clares Kelpie, am späten Abend ein letztes Mal Gassi ging und am Laden vorbeilief, brannte dort fast immer Licht.
    Vom ersten Tag an, als wir im Freibad gemeinsam den Kaffee mit Chlorgeschmack tranken, hatte ich gespürt, wie stark sein Mitteilungsdrang war. Aber er war schüchtern und verschlossen, so dass ich einige Zeit brauchte, um ihn von meinem aufrichtigen Interesse zu überzeugen. Immer wieder sagte er zu mir: »Hoffentlich langweile ich Sie nicht«, und lachte dann. In diesem Lachen klangen viele Vorbehalte und große Unsicherheit an. Es beunruhigte
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