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Sabihas Lied

Sabihas Lied

Titel: Sabihas Lied
Autoren: Alex Miller
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Pathologe hatte Wichtigeres zu tun.
    *
    Diese Unterredung markierte für Houria das offizielle Ende der zwanzig glücklichen Jahre, die sie mit Dom Pakos verlebt hatte. Sie war siebenundvierzig und von nun an auf sich allein gestellt. Sie dankte dem Pathologen, stand auf und ging nach Hause, ins Café, das ganz leer und ganz still war. Ein verwaister einsamer Ort ohne ihren Dom.
    Sie setzte sich auf das Ehebett in ihrem Schlafzimmer über dem Café und starrte durchs Fenster auf die oberen Fenster von Arnoul Forts Geschäft auf der anderen Straßenseite. Den Mantel hatte sie nicht ausgezogen, und sie hielt die Handtasche in ihrem Schoß mit beiden Händen umklammert, als rechnete sie damit, jeden Moment gerufen zu werden und Hals über Kopf aufbrechen zu müssen. Doch die Minuten verstrichen ohne Ruf. Es gab die Stimmen der Kinder, die unter ihrem Fenster auf der Straße spielten, hupende Autos, ab und zu eine laute Begrüßung oder Verabschiedung, den intensiven, scharfen Schlachthofgeruch. Das war ihr Zuhause. Sie wäre gern in die graue Vorzeit zurückgekehrt, um mit ihrer Trauer in den Klagechor der Frauen ihrer Sippe einzustimmen. Aber das hatte sie alles vor Ewigkeiten aufgegeben. Nachdem Houria eine ganze Weile aus dem Fenster geschaut hatte, wurde ihr schlagartig bewusst, dass Dom nie wieder nach Hause kommen würde. Sie fing an, haltlos zu schluchzen, der Verlust bereitete ihr einen solchen Schmerz, dass es ihr die Luft abschnürte.
    Als sie sich schließlich ausgeweint hatte, stand sie vom Bett auf, ging nach unten, hängte ihren Mantel in die Garderobennische und legte ihre Handtasche auf die Küchenbank. Sie machte sich ein Glas süßen Minztee, hielt es sich mit beiden Händen unter die Nase, um den vertrauten Duft wirken zu lassen. Durch den Perlenvorhang hindurch konnte sie Doms Schatten erkennen. Er stand neben einem der Tische im Speiseraum, sah zum Fenster hinaus und wedelte mit dem Lappen, während er sich mit einem Gast unterhielt. Das sah so echt aus, dass sie beinah die Hand ausgestreckt und ihn berührt hätte. »Dom!«, wisperte sie, die jetzt nichts als die Leere der Verzweiflung in sich spürte. »Weißt du noch, wie du gelobt hast, mich immer zu lieben und mich niemals zu verlassen?«
    Sie schloss das Café und klebte ein Schild an die Tür, bevor sie die nächsten Tage ziellos durch die Räume irrte, mal einen Topf in die Hand nahm und ihn gleich wieder abstellte, mal zur Hintertür ging und in das Gässchen hinausschaute, unschlüssig, was sie nun tun sollte. Sie weinte viel und konnte sich zu nichts aufraffen. Andrés geisterhafter grauer Hund Tolstoi, ein stattlicher alter Barsoi, kam zur Hintertür, schmiegte sich an sie und sah mit großen traurigen Augen zu ihr auf. Sie strich dem schönen Tier über den Kopf, und Tolstoi blieb unverwandt bei ihr stehen, während sie ihm von ihrem Kummer erzählte und den leicht säuerlichen Geruch von nassem Fell, der ihr in die Nase stieg, genoss.
    Eines Abends, als die Kinder nach dem Spielen alle nach Hause gegangen waren und keine hupenden Autos mehr vorbeifuhren, setzte sie sich in der konzentrierten Stille des kleinen Wohnzimmers hin, das sie beide unter der Treppe eingerichtet hatten, und schrieb einen Brief an ihren Bruder in El Djem. Im Laufe des Abends war bei ihr eine ungewohnte Sehnsucht nach einem Zuhause und nach Familie aufgekommen, wie Wasser, das aus einem lange versiegten Brunnen hervorsprudelt.
    Liebster Hakim, schrieb sie. Mein Mann ist gestorben und jetzt bin ich allein. Ich habe beschlossen, nach Hause zu fahren, aber vorher muss ich hier das Geschäftliche regeln und einen Käufer suchen. Das Haus gehört nicht uns, aber André, der Eigentümer, ist ein guter Mensch und wird mir genug Zeit lassen, um die bestmögliche Lösung zu finden.
    Sie berichtete noch ein bisschen von ihrer Situation, bevor sie sich nach dem Befinden aller Angehörigen erkundigte. Dabei fiel es ihr schwer, sich ein klares Bild von dem Ort zu machen, den sie dreißig Jahre zuvor als Siebzehnjährige gemeinsam mit ihrer Mutter verlassen hatte.
    *
    Ein paar Tage danach kehrte Hourias Bruder Hakim in El Djem von seiner Straßenbauschicht zurück. Seine Frau nahm ihm an der Tür die Jacke ab, während seine beiden unverheirateten Töchter Sabiha und Zahira dabeistanden und ihm zusahen. Hakims Schnurrbart war weiß vor
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