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Sterbendes Land Utopia

Sterbendes Land Utopia

Titel: Sterbendes Land Utopia
Autoren: Kenneth Bulmer
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1
     
    Bald würde der Sommer die Pergola mit üppigen, farbenprächtigen Rosen überziehen und die nackten Ranken überdecken, die wie achtlos vom Winter liegengelassene Schnüre aussahen. Auf sechs der sieben Berge von Manicoro schmolz der Schnee, und bald würde das schäumende Wasser übermütig in kleinen Bächen zu Tal sprudeln und das Land aus dem Winterschlaf wecken. Die Welt erwachte wieder einmal zu neuem Leben.
    Die Aussicht stimmte Kerith traurig.
    Ihr Fuß mit der Kristallsandale zeichnete ein Muster auf die Steinfliesen. Grüne Moosflechten schnappten mit gierigen, flinken Fingern nach den Ameisen und Käfern, die sich die Brösel von Keriths Frühstückstisch holen wollten. Man hatte den Tisch genau da auf die Terrasse gestellt, wo das erste Sonnenlicht hereinfiel und das Auge die Schönheit des Gartens in sich aufnehmen konnte. Jetzt aber war die Schönheit, der Sonnenschein, das Versprechen künftigen Lebens nichts als Hohn.
    In einem nicht endenden Strom kamen Ameisen und Käfer herbei, und das Moos verschlang sie alle. Früher hätte man ein Unkrautvertilgungsmittel auf die Fliesen gestreut – aber jetzt nicht mehr. Ärgerlich beobachtete Kerith, wie die Ameisen in ihren Tod liefen. Doch zumindest waren sie glücklicher als ihr Volk – sie vermehrten sich frei, und sie wußten nicht, wie ihr Ende aussah.
    Ihre schlanke Hand, weiß und völlig ohne Schmuck, hob die Milchschale. Sie trank den letzten Rest, und wie sich ihr Hals nach hinten bog, sah er zart und schutzlos aus. Ein türkisblaues Kleid fiel locker über ihre Gestalt. Sie sah strahlend wie die erste Sommerrose aus, noch nicht voll aufgeblüht, taufrisch, voll von Lebenserwartung …
    Jarfon von Trewes brach seinen Zwieback mit einem scharfen Knacken und kaute mit starken, weißen Zähnen. Die kräftigen Muskeln unter der gebräunten Haut und dem kühnen Bart bewegten sich.
    Ein Schluck Milch, dann sagte er: »Keiner bedauert unsere Lage mehr als ich, Mylady. Aber wir müssen mutig weitermachen. Der Bote …«
    »Mutig!« Prinzessin Kerith schnitt eine Grimasse. Ihre Finger zerbröckelten ein Stück Zwieback für die Ameisen unter ihrem Stuhl. »Meinem Volk fehlt es nicht an Mut. Ich frage mich nur, ob es sinnvoll ist.«
    »Aber wir müssen unser Geschick mit …«
    »… Würde tragen, ich weiß«, unterbrach sie ihn. Sie stand auf, und das Sonnenlicht fing sich in ihrem rotgoldenen Haar. »Mit Würde und Tapferkeit, mit Edelmut und Ruhe – wie diese armseligen Ameisen, die blindlings in den Tod rennen.«
    »Nicht so, Mylady.« Er erhob sich, wie es die Höflichkeit erforderte, wenn eine Dame stand. Sein hartes, dunkles Gesicht spiegelte die Trauer wider, die er beim Anblick der unglücklichen, mädchenhaften Prinzessin empfand. »Die Ameisen wissen nichts von ihrem Tod, und so handeln sie bis zum letzten Augenblick. Wir Menschen sollten uns ein Beispiel an ihnen nehmen.«
    »Der Bote, Jarfon?«
    »Ist noch nicht angekommen.«
    Sie hielt sich an der Stuhllehne fest. »Ich hatte diesmal gehofft …«
    Kerith seufzte mit der dunklen Verzweiflung, die das helle Land Brianon einhüllte. »Wir haben heute viel zu tun …« Ein verächtlicher Ausdruck glitt über ihre feinen Züge. »Ach, Jarfon, es ist alles nur Selbsttäuschung, und Ihr wißt es genau. Wir geben unseren Händen Arbeit und hoffen, daß sie auch unseren Geist beschäftigen wird. Doch was hat das alles für einen Sinn?«
    »Eines Tages, Mylady, eines Tages …«
    »Wir hoffen. Aber nach neunzehn Jahren wird Hoffnung zum Hohn.«
    Jarfon von Trewes warf sich den königsblauen Umhang über die Schultern und befestigte ihn mit den goldenen Spangen. Der Tag hatte strahlend begonnen, aber es war noch nicht Sommer, und der Wind kam von den sieben Bergen von Manicoro, deren alte Gipfel noch schneebedeckt waren. Er versuchte tröstende Worte zu finden.
    »Für Euch, Mylady, sind neunzehn Jahre eine lange Zeit, da sie Euer ganzes Leben umspannen. Aber ich warte erst ein Drittel meines Lebens. Trotz allem gebe ich die Hoffnung nicht auf.«
    »Ihr seid tapfer.« Kerith lächelte ihn an, mit einem Lächeln, das Kameraden aus ihnen machte. Zwei Kameraden, die das Schicksal mit Würde und Tapferkeit erwarteten – wie die Ameisen.
    »Die Häuser in der siebenunddreißigsten Avenue sind nicht mehr bewohnbar«, sagte Jarfon von Trewes nach einer Pause. »Wir müssen die Leute umquartieren …«
    »Ich weiß, daß ich Euch als meinem ersten Minister diese Angelegenheiten überlassen kann.
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