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Sabihas Lied

Sabihas Lied

Titel: Sabihas Lied
Autoren: Alex Miller
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Freiheiten erlauben. Gelegentlich ertappte sie sich sogar dabei, das Alleinsein zu genießen, und ihr kam der verwegene Gedanke, dass für sie möglicherweise eine aufregende neue Lebensphase anbrach. Sie hatte damit begonnen, die Haare einfach grau nachwachsen zu lassen. Das war immerhin ein Anfang. Sie scheute nicht vor Veränderungen zurück. Auf der Straße fielen ihr Frauen ihres Alters, auch ältere, mit schickem grauem Kurzhaarschnitt auf, und sie beneidete sie. Nicht, weil sie modischer wirkten, obwohl das durchaus der Fall war, sondern weil sie Houria freier, selbstbewusster erschienen. Als lebten diese Frauen in einer Welt, die sie sich persönlich ausgesucht hatten. In ihrer eigenen Welt, darum beneidete Houria sie. Darum, dass sie irgendwann eine Wahl getroffen hatten. Ihr Gang kam Houria beschwingter vor als der Gang jener älteren Frauen, die wie sie ihre Haare immer noch lang trugen und alle paar Wochen zum Friseur rannten, um sich den grauen Haaransatz nachfärben zu lassen. Nun, da Dom nicht länger bei ihr war, brannte sie darauf, dem erlauchten Kreis der kurzhaarigen Pariserinnen beizutreten, bevor es zu spät war. Aber noch quälte sie sich mit der Frage, ob seit Doms Tod genug Zeit verstrichen war oder ob es sein Gedenken beleidigen würde, wenn sie sich die Haare abschneiden ließ. Vielleicht würden die anderen ja annehmen, sie wäre froh , ihn los zu sein, wenn sie sich im Café und auf der Straße plötzlich mit einer neuen Frisur zeigte. Vielleicht würde sie es selbst annehmen. Das war das Einzige, was sie noch davon abhielt.
    Sie blieb im Durchgang zwischen Küche und Speiseraum stehen, raffte den Perlenvorhang beiseite und sah ihrer Nichte beim Tischdecken zu. Sabiha trug ein hübsches blau-weißes Kleid mit gegürteter Taille. Die langen schwarzen Haare hatte sie mit einer blauen Schleife zusammengebunden. Als sie sich aufrichtete und zu ihrer Tante umdrehte, sagte Houria: »Meinst du, dass mir kurze Haare stehen würden, mein Schatz?«
    Mit beiden Händen voller Messer, Gabeln und Löffel betrachtete Sabiha ihre Tante, sah eine bald fünfzigjährige Frau mit hochgesteckten Haaren, deren Ansatz stahlgrau hervorstach. »Richtig kurz? Oder nur ein bisschen kürzer?«, fragte sie. Houria hatte ein breites, ansprechendes Gesicht, das von zwei dicken Haarrollen beschwert wurde, als trüge sie einen Kuhfladen auf dem Kopf. Es wirkte sehr unnatürlich und bedrückend. So sah ihre Tante aus wie eine alte Frau. Wie eine Frau, die sich keinen Deut mehr um ihre Erscheinung kümmerte oder im Gegenteil viel zu streng darauf achtete. Als Houria sich einmal übers Altwerden beklagte, hatte Sabiha ihr geantwortet: »Mir kommst du nicht alt vor. Für jemanden in deinem Alter siehst du sogar richtig jung aus.« Da hatte Houria gelacht und ihre Nichte umarmt.
    Â»Nein, richtig kurz«, sagte Houria, fasste sich mit beiden Händen an den Kopf und zupfte am schweren Fladen. Dabei rieselte Mehl auf ihre Haare, sie machte gerade Filoteig. »Nicht länger als drei oder vier Zentimeter.« Houria hob die Hand und zeigte mit Daumen und Zeigefinger die gewünschte Länge an. »Vier, allerhöchstens fünf. Was meinst du? Ganz ehrlich?« Sie wollte ihre Haarlast so gern abschütteln. Wenn Sabiha es guthieß, würde sie noch am selben Nachmittag zum Friseur gehen und es endlich wagen. Sabiha hatte prachtvolle Haare, lang und glänzend und schwarz wie … na ja, tief schwarz. Wenn Sabiha sich die Haare abschneiden ließe, wäre das wirklich ein Jammer. Aber darum ging es auch gar nicht. Sie war einundzwanzig, bald würde sie sich einen Ehemann suchen und eine Familie gründen müssen. In ihrem Alter waren lange Haare für eine Frau so lebensnotwendig wie ein Schnurrbart für jeden halbwegs anständigen Mann. Alles hat seine Zeit.
    Sabiha lächelte. Ihre Tante stand vor ihr mit der riesigen blauen Schürze und den schweren schwarzen Schuhen, die sie immer trug. Houria war keine schöne Frau. Eigentlich war sie klein und dick. Sie war eine liebenswerte Frau. Aber nicht schön. Diesen ausladenden Busen und die kräftigen Arme und die stämmigen Beine konnte man nicht schön nennen. Eine herzensgute, tüchtige Frau war sie, das ganz sicher, hilfsbereit und großzügig. Das war schon eine Menge. Und jetzt verblüffte sie ihre Nichte mit dieser Eitelkeit. Sabihas Mutter
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