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Sabihas Lied

Sabihas Lied

Titel: Sabihas Lied
Autoren: Alex Miller
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geschrieben habe, war ich völlig außer mir. Doms Tod war für mich ein schrecklicher Schock. Ich wusste nicht, was ich tat. Ich wusste nicht, was ich sagte oder dachte, ich wusste gar nichts.« Sie nahm Sabiha bei der Hand und führte sie nach unten in die Küche, wo sie für sie beide heiße Schokolade zubereitete. »Und als ich mir endlich klargemacht hatte, was es bedeuten würde, nach Tunesien zurückzukehren, wusste ich auf einmal, dass meine wahre Heimat hier ist. Paris ist der Ort, an dem ich sterben werde.«
    Â»Sag doch so was nicht. Du wirst niemals sterben.«
    Sabiha fühlte insgeheim eine freudige Erregung. Sie hatte bereits beschlossen, nur dann nach Hause zurückzukehren, wenn es gar nicht anders ging.
    Â»Hier sind alle meine Erinnerungen«, sagte Houria und sah sich in der Küche um, blickte auf die abgenutzten Töpfe und Pfannen und die Tonkrüge und die Stapel von Schalen und die alten braunen Pichets und die Weinflaschen und das ganze andere Zeug, das sie und Dom über die Jahre zusammengetragen hatten. »Wenn ich jetzt nach Hause zurückkehren würde, hätte ich dort bloß noch ein paar alte verblasste Kindheitserinnerungen. Als Witwe würde ich mit den anderen alten Frauen zusammensitzen und sie über Menschen und Ereignisse schwatzen hören, die mir persönlich nichts sagen. Was könnte ich ihnen schon erzählen? Wenn ich jetzt zurückginge, wäre ich dort einsamer als hier. Ich würde nur auf den Tod warten. Aber dazu bin ich nicht bereit. Noch nicht.«
    Â»Du bist doch noch jung, Tantchen«, sagte Sabiha.
    Houria nahm sie in die Arme und drückte sie an sich. »Du riechst so gut. Dich behalte ich bei mir.«
    *
    Sabiha fuhr mit dem Tischdecken fort.
    Â»Lass sie dir gleich heute Nachmittag abschneiden«, sagte sie bestimmt. Sie genoss den Anblick der Messer und Gabeln und Wasserkrüge und Gläser, die akkurat auf den Tischen platziert waren, bevor die Männer zum Mittagessen anrückten. Nachdem sie ihr Werk stolz in Augenschein genommen hatte, sah sie wieder Houria an.
    Â»Ich begleite dich zum Friseur und schaue zu. Und ich werde deine Hand halten.«
    Beide Frauen lachten.
    Â»Was würde ich nur ohne dich tun?«, sagte Houria.

H ouria wusste viel besser mit Gewürzen umzugehen als Dom, so dass ihre Kochkünste seine bei weitem überragten. Dieses Geheimnis hatte sie all die Jahre hindurch für sich behalten. Hatte ihr Licht unter den Scheffel gestellt. So bescheiden, wie es sich für eine Frau geziemt. Doch nun gab sie ihre Geheimnisse öffentlich preis, und bald hörten auch die Gastarbeiter des Viertels vom Chez Dom und gingen zum Mittagessen dorthin. Während Houria am Herd stand und Sabiha die Teller auftrug, konnten die Männer in ihrem tunesischen Dialekt sprechen, und die würzigen Gerüche waren die gleichen wie in ihrer Heimat. Mitten am Arbeitstag hatten diese Männer eine Stunde lang beinah das Gefühl, von ihren Frauen und Töchtern versorgt zu werden. Im Chez Dom vergaß man schnell, wie es im Schlachthof roch. Die jungen Männer lächelten Sabiha schüchtern an und verhielten sich sehr höflich. Die älteren folgten ihr mit Blicken, dachten an ihre eigenen Töchter und waren von der Anmut dieser jungen Frau aus der Heimat bezaubert.
    Binnen eines Jahres nach Dom Pakos’ Tod wurde das Café ausschließlich von nordafrikanischen Gastarbeitern besucht. Einige von ihnen hatten auch selbst einen kleinen Betrieb auf die Beine gestellt. Das Chez Dom wurde ihr Treffpunkt. Ein paar tranken Wein, aber die meisten taten es nicht, so dass sich das Café für Houria jetzt besser rentierte als früher, als alle Gäste zum Mittagessen etliche Gläser Wein hinunterkippten, die im Menü enthalten waren. Außerdem hatte sie das Angebot erweitert. Es sprach sich schnell herum, wie köstlich ihr Gebäck war. Mit Hilfe ihrer Freundin Sonja verkaufte sie es auf dem Markt, und sie nahm Bestellungen von benachbarten Läden an. Wenn sie nicht gerade das Mittagessen vorbereitete, kaufte Houria Zutaten ein oder backte Kuchen und Kekse. Das war ein einträgliches Nebengeschäft, und Sabiha stand ihr dabei bereitwillig zur Seite. Die beiden lachten und sangen immerzu, während sie in der Caféküche gemeinsam vor sich hin werkelten.
    Â»Ich werde dir alles beibringen«, sagte Houria zu ihrer Nichte. »Eine Frau sollte die
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