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Sabihas Lied

Sabihas Lied

Titel: Sabihas Lied
Autoren: Alex Miller
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Geschenk meiner Familie, Madame.«
    Als Sabiha sah, wie gedemütigt er sich fühlte, ging sie auf ihn zu und legte ihm die Hand auf den Arm, wie eine Mutter es vielleicht bei ihrem Sohn tun würde, als Abschied vor einer langen Reise. Vor lauter Tränen brachte sie kein Wort heraus.

Sechs

A ls ich gestern Abend nach meiner Paradiso-Sitzung mit John heimkehrte, freute ich mich darauf, in aller Ruhe noch ein Glas zu trinken. Ich brauchte ein wenig Zeit für mich, um das zu verarbeiten, was John mir erzählt hatte. Er hatte mich überrascht. Er hatte mich schockiert, und ich wusste nicht so recht, wie ich damit umgehen sollte.
    Als ich in die Küche kam, traf ich Clare und ihren neuen Liebsten an, die sich gerade einen Drink genehmigten. Eine seiner scheußlichen CD s lief bei voller Lautstärke. Clare lehnte mit einem Glas Wein in der Hand am Herd. Sie war rot im Gesicht und etwas zerzaust, als hätte sie schon ein paar Gläser intus. Kein erfreulicher Anblick. Ihr Kerl, Kappen-Robin, saß wie üblich am Tisch, den Stuhl nach außen gerückt und mit dem Kopf auf der Tischplatte, das Kinn ruhte auf dem linken Arm – und natürlich hatte er das Ding auf dem Kopf. Er stierte eine Dose Foster’s Lager an, die er am Ende seines ausgestreckten rechten Arms mit den Fingern umschlossen hielt. Stubby lag unter dem Tisch, den Kopf ebenfalls auf den Pfoten, wie es für ihn typisch war. Ob der Kappenträger den Hund nachäffte? Gehörte das zum Repertoire eines Stand-up-Komikers? Für ein Stehaufmännchen schien er mir ziemlich viel Sitzfleisch zu haben.
    Ich hielt mich an Clare und stellte mich zu ihr an den Herd. Es ging auch gar nicht anders. Der Kappenträger hatte sich über den ganzen Tisch ausgebreitet. Auf meine Begrüßung reagierte Clare mit »Hi Dad«, als wollte sie wie ein junges Mädchen klingen. Normalerweise sagen wir nie Hi. Vom Kappenträger vernahm ich keinen Mucks, allerdings hat mein Gehör im Alter nachgelassen und die Musik war extrem laut, vielleicht habe ich seinen Gruß schlichtweg überhört. Ich will ihm nicht unrecht tun. Es gibt nichts Widerwärtigeres als Vorurteile. Habe ich nicht mein halbes Leben damit zugebracht, dagegen anzuschreiben? Tatsächlich habe ich das Thema in meinen Büchern über Jahrzehnte aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Ich schenkte mir ein Glas Wein ein und trank es im Stehen, den Blick auf Kappen-Robin gerichtet, der ihn lächelnd erwiderte, ohne den Kopf vom Tisch zu heben.
    Ich erhob mein Glas und brüllte ihm zu: »Cheers!«
    Clare kreischte »Cheers, Dad!« und lächelte mich bittend an.
    Kappen-Robin spähte unter seinem abgewetzten Schirm hervor und schrie: »Und womit haben Sie früher Ihre Brötchen verdient, Ken?« Das Schreien fiel ihm offensichtlich leicht. Dort, wo er mit seinen Kumpels wohnte, musste man vermutlich immer schreien, weil sie alle lauten Rap hörten oder was immer das sein soll. Ich kenne mich damit einfach nicht aus. Dafür kenne ich mich mit den Streichquartetten von Schostakowitsch aus. Insbesondere mit dem Streichquartett Nr. 6 . Das ist meine Welt.
    Ich sah zu Clare. Hatte sie ihm etwa nicht voller Stolz erzählt, dass ihr Vater ein berühmter Schriftsteller war? Das machte mich traurig. Aber warum sollte sie das auch tun? Ihr fiel mein Kummer auf, und sie drehte die Musik leiser. Was spielte das alles noch für eine Rolle? » Früher habe ich geschrieben«, antwortete ich. »Vor meinem Ruhestand.«
    Â»Was denn geschrieben? Bücher?«
    Er blinzelte mich unverwandt an, allem Anschein nach fasziniert vom ungewöhnlichen Blickwinkel, aus dem er mein Gesicht betrachtete.
    Â»Romane«, sagte ich kurz angebunden.
    Â»Fiktive Romane?«
    Â»Genau.«
    Â»Vielleicht lese ich mal einen«, sagte er und musterte gebannt das Bier in seiner Hand, als hätte er noch nie zuvor eine Dose Foster’s Lager gesehen.
    Ich glaube nicht, dass er jemals ein Buch aufschlagen wird. Und ich kann mir erst recht nicht vorstellen, dass er eines meiner Bücher liest. Selbst die blühendste Fantasie hat ihre Grenzen. Er lebt in einer literaturlosen Welt. Clare ist ja selbst alles andere als eine Leseratte. Ich glaube, sie hat eines meiner Bücher gelesen, als sie noch auf der Highschool war. Und das war es auch schon. Womöglich hat sie selbst dieses eine Buch nicht zu Ende gelesen. Ich weiß noch, dass
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