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Sabihas Lied

Sabihas Lied

Titel: Sabihas Lied
Autoren: Alex Miller
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hingegeben, aber ich dachte unwillkürlich daran, wie ich Clare damals immer von der Grundschule abgeholt hatte. Das war ein halbes Leben her, ein höchst passender Anlass für Nostalgie. Mich bewegte jedoch etwas anderes, nicht die Sehnsucht, die guten alten Zeiten mit meiner Tochter noch einmal zu erleben, sondern die Freude, dass diese Dinge nach wie vor existierten. Ich hatte schon manches Mal verzweifelt ausrufen wollen, dass sich alles verändert hat und alles Schöne verschwunden ist. Aber das ist das Vorurteil der alten Leute, man muss dagegenhalten. Die Wahrheit ist, falls ich mir kurz erlauben darf, von Wahrheit zu sprechen, dass das Beste und das Schlimmste, das Ursprüngliche, was uns Menschen ausmacht, unverändert geblieben ist, ich meine damit das Gute und das Böse.
    Houria sah ihren Vater forschend an, offensichtlich stellte sie ihm gerade eine Frage, die sie sehr beschäftigte. Der blau-gelbe Schulranzen hüpfte auf ihrem Rücken auf und ab, während sie eifrig auf ihn einsprach. John hörte ihr aufmerksam zu. Er beugte sich vor und nahm sie hoch. Für ihr Alter war sie groß, und als er sie an sich drückte, erschwerte seine sperrige Tasche die Sache noch. Mit Houria auf dem Arm spähte er in beide Richtungen, bereit, loszustürzen, sobald sich eine Lücke im Verkehr auftat. Während ich dies mit ansah, erwachte die alte Angst wieder, die ich im Zusammenhang mit Kindern und breiten, stark befahrenen Straßen stets verspürt hatte. Ich drehte mich weg und betrachtete stattdessen Sabiha.
    Sie lachte über eine Bemerkung der Kundin und wählte mit ihrer Konditorzange die Gebäckstücke aus, mit der gleichen Sorgfalt, die sie an den Tag gelegt hatte, als ich zum ersten Mal in ihren Laden kam. In der freien Hand hielt sie die Papiertüte und achtete darauf, beim Befüllen die Gebäckkruste nicht zu beschädigen.
    Als ich erneut einen Blick aus dem Fenster warf, hatten es John und Houria bis zur Verkehrsinsel in der Mitte geschafft. Er setzte die Kleine ab, nahm ihre Hand und wartete auf die nächste Gelegenheit, während die Autos an ihnen vorbeirauschten. Der Verkehr ließ bereits nach, so dass sie die Straße schon bald überqueren konnten. Houria machte keine Schritte, sondern Sprünge. Sie wollte sehen, wie weit sie jeweils springen konnte, hielt dabei die Hand ihres Vaters fest umklammert, während er sie anfeuerte und ihr zusätzlichen Schwung verlieh, indem er sie bei jedem Sprung leicht anhob.
    Â»Und von diesen hätte ich gern auch ein paar«, sagte die Kundin. Sie zeigte auf die pyramidenförmig gestapelten, honiggetränkten Briouats auf dem Regal hinter Sabiha. »Wie spricht man das noch mal aus? Sie wirken immer so verlockend. Ich wollte sie schon seit Ewigkeiten mal probieren.«
    Sabiha wählte die zwei obersten Briouats aus und steckte sie nacheinander mit der Zange in eine neue Tüte, die sie neben die erste Gebäcktüte stellte. »Hier, zum Kosten. Die gebe ich Ihnen gratis mit.«
    Â»Das ist aber nett, danke«, sagte die Kundin. »Mein Mann wird sich bestimmt daraufstürzen. Wenn ich zugucken darf, ist das schon viel.«
    Während ich Sabiha beobachtete, fragte ich mich, ob die Nacht, in der Bruno ermordet wurde, immer noch in ihrer Erinnerung aufblitzte, wenn sie schlaflos neben John im Bett lag. Ob sie sich immer wieder die Einzelheiten vor Augen führte? Die Schrecken dieser Nacht erneut durchlebte? Ob sie weiterhin Schuldgefühle plagten, weil sie das Leben dieses Mannes zerrüttet hatte? John war zwar der Ansicht, dass sie sich damit abgefunden hatte, aber keiner von uns ist in der Lage, die Träume oder Ängste, die nachts aufkommen, zu beherrschen. Als ich sie so lächeln und mit ihrer Kundin plaudern sah, konnte ich mir kaum vorstellen, dass Sabiha von Reue gequält wurde. Doch dann fiel mir der Tag ein, an dem ich sie zuerst gesehen und in ihren Augen Spuren einer abgründigen vergangenen Traurigkeit entdeckt hatte, deren Anlass ich zu gern in Erfahrung bringen wollte. Nun kannte ich ihre Geschichte; aber eine Geschichte zu kennen ist eine Sache, sie zu schreiben eine ganz andere. Wie sollte ich den fragilen Verflechtungen gerecht werden, die ihrer Geschichte Gewicht und Tiefe und Schönheit verliehen, wie sollte ich das zur Sprache bringen, was sich unserer Betrachtung am leichtesten entzieht?
    Sabiha drehte sich um und sah mir in die Augen, als
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