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Russisches Abendmahl

Russisches Abendmahl

Titel: Russisches Abendmahl
Autoren: Brent Ghelfi
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zu einer untersetzten Frau, die auf einem Weg neben ihrem Gehwagen steht. Sie zieht ihr Schultertuch über der Brust zu. »Halbwüchsige Nazis«, sagt sie. Ihre Stimme ist so tief wie die eines Mannes. »Diese Flegel sind gekommen, um zu vollenden, was ihre Großväter nicht geschafft haben.«
    Sie scheint keine Antwort zu erwarten, also bekommt sie auch keine. Ich glaube, die Wahrheit sieht anders aus. Am Ende haben die Deutschen sich dafür entschieden, Gewinner in einem Kampf der Kulturen zu sein. Russland hat einen anderen Weg gewählt und wird jetzt von einem kulturellen Ansturm heimgesucht, gegen den es nicht gewappnet war.
    »Wir hätten sie unter unseren Stiefeln zermalmen sollen«, sagt meine neue Bekanntschaft. Ich nehme an, sie meint die Rote Armee in Berlin und sie sehnt sich danach, die Zeit zurückdrehen zu können und Artillerie und Luftwaffe bis zum Atlantik vorrücken zu lassen. Sie spuckt auf den Weg. Zerrt verächtlich grummelnd an ihrem Wagen und rollt davon.
    Ich folge ihr, verlangsame mein Tempo, weiche nach rechts aus und laufe um ein kurz gemähtes, kreisförmiges Stück Rasen mit manikürten Blumen. Südlich des Grabmals des Unbekannten Soldaten steht eine Reihe dunkelroter Urnen gefüllt mit Erde aus jeder der »Heldenstädte«, die sich gegen Hitler gestellt haben. Dubinin wirkt verloren, wie er so dasteht, die Hände in den Taschen seines meergrünen Uniformrocks, und auf den marmornen Grabstein starrt.
    Ich stelle mich neben ihn. Wir stehen beide in unseren Kokon aus Schweigen gehüllt inmitten der vorbeilaufenden Touristen, Rowdy-Teenager und Schulkinder, die heute andere Dinge lernen als damals ihre Eltern.
    »Einundvierzig Kilometer«, sagt Dubinin und sieht mich immer noch nicht an. Sein Gesicht ist dem Grab zugewandt. »Manchmal frage ich mich, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn die Nazis das letzte Stück noch geschafft hätten.«
    Ich erinnere mich an die Igel an der Straße außerhalb von Moskau, die an Hitlers tiefsten Vorstoß erinnern sollen. Das Grabmal enthält die Überreste eines Soldaten, der dort gestorben ist, unter der Inschrift »Dein Name ist unbekannt, deine Taten unsterblich«. Hoffnungsvolle Worte, die der Mob um uns herum Lügen straft. Die Taten des Soldaten sind lange vergessen, außer vielleicht in den verblassenden Erinnerungen der alten Frau, die ihren Gehwagen schiebt, und ein paar anderen ihrer Generation.
    »Wahrscheinlich wäre alles genauso gekommen«, sage ich.
    Russland ist immer das gleiche Land, ob unter den Zaren, den Kommunisten oder den Republikanern. Und es braucht große Mengen an Wodka, um diese katastrophale Gleichförmigkeit zu ertragen.
    Dubinin starrt weiter auf das Grab. Er zündet sich eine Zigarette an und nimmt einen tiefen Zug. »Ich weiß, dass Sie mich nicht mögen, Oberst«, sagt er.
    Er hält inne, vielleicht damit ich ihm widerspreche, aber den Gefallen tue ich ihm nicht.
    Rauch steigt durch seinen buschigen Schnurrbart. Ein Hauch von einem Lächeln zeichnet sich unter seinen Borsten ab. »Der General sagt, Sie seien zu wertvoll, wir dürften Sie nicht verlieren. Ich würde das nicht verstehen.«
    Eine Gruppe Schulkinder in blauen Jacken und gestärkten weißen Hemden marschiert vorbei und trillert hohe Töne. Sie schlängeln sich um einen Bettler herum, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen, obwohl eines der Mädchen die Nase rümpft.
    »Mein Auftrag ist es, den General zu beschützen«, sagt Dubinin. »Deswegen muss ich wissen, was Sie denken.«
    Ich frage mich, ob ich im Fadenkreuz eines Scharfschützen stehe. Der Schuss würde vom Kreml aus kommen, dort wäre der Schütze am sichersten. »Hat der General Sie geschickt?«
    »Nein. Er vertraut Ihnen immer noch. Er glaubt, Sie würden verstehen, warum er tun musste, was er getan hat.«
    Ich vermute, der Hauptmann bezieht sich darauf, dass er mich verraten hat. »Was hatte Maxim gegen ihn in der Hand?«
    Dubinin lässt die Zigarette fallen und drückt sie mit der Spitze seines glänzenden Stiefels aus. Ich habe ihn bisher nie rauchen gesehen. Falls er sich noch eine anzündet, sollte ich ihn töten, bevor eine Kugel mein Hirn zerfetzt.
    »Im Iran ist ein Flugzeug voller Waffen abgestürzt«, sagt er.
    Ich erinnere mich an die damastfarbene Wüste auf dem Bildschirm von Leonids Fernseher und den »Transportauftrag« der beiden toten Soldaten in Wladikawkas. Jetzt weiß ich, warum der General sich mit Maxim verbündet hat. Er hat ihm das Flugzeug und seine Ladung verkauft
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