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Russisch Blut

Titel: Russisch Blut
Autoren: Anne Chaplet
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Flüchtling. Ob sie das begriffen, der ehemalige Verlobte, der Sohn?
    Wie wichtig ihr die Antwort plötzlich war. Sie drehte den Männern den Rücken zu und suchte den dunklen Raum ab, nach irgend etwas, an dem ihr Blick sich festklammern konnte. Zeus rückte näher und schmiegte den Kopf an ihr Knie. Moritz’ Stimme verstummte. Eine Weile hörte man wieder nur Atmen, dann holte der Graf tief Luft, es schien ihm plötzlich Mühe zu machen. Und dann –
    Sie drehte sich wieder um. Die beiden Männer lagen einander in den Armen.
     
    Sie waren schon an der Tür, als Katalina das Päckchen einfiel, das zuunterst gelegen hatte in dem Versteck bei Gawans Grab. Moritz richtete die Taschenlampe auf das schmutzige Leinentuch, der Graf faltete es behutsam auseinander, seine schmalen Finger zitterten. Schließlich hob er zwei ovale Gegenstände heraus, Bilder, nicht größer als der Handteller eines kräftigen Mannes. Sie leuchteten im Taschenlampenlicht, nichts hatte den Farben ihre Strahlkraft nehmen können.
    »Anna Katharina und Friedrich von Jechow, Mathildes Vorfahren. Email auf Gold, Arbeiten von Peter Boy. Ein kleines Vermögen wert.«
    Es verschlug ihr den Atem. Wäre das die Lebensrettung gewesen für Alex, Sophie und Erin?
    »Ich wußte nichts davon«, sagte der Graf leise.
    Und wenn? dachte Katalina. Hätten Sie es ihnen dann verraten?

6
    Vielleicht geht es mir wie deiner Mutter – es gibt Dinge, über die sich nicht sprechen läßt. Ob es mir gelingt, sie wenigstens aufzuschreiben? Hoffentlich. Denn ich möchte nicht mißverstanden werden. Nicht von dir.
    Weißt du, daß ihr ein bißchen wie Vater und Sohn ausgesehen habt, der Graf und du? Ich habe euch zugesehen, wie ihr sie auseinandergefaltet habt, die mürben Blätter, auf denen Mathilde aufgeschrieben hat, was war, als der Krieg zu Ende ging. Was habt ihr erwartet? So gehen wahrscheinlich viele Kriege zu Ende – mit der Rache der Sieger. Und jeder Sieger weiß, wie man die Niederlage unvergessen macht – man läßt sie an den Frauen und Kindern des Feindes aus. Die Rechnung geht auf. Immer.
    Denn das Schlimmste kommt danach. Das Schlimmste ist der Zweifel in den Gesichtern der besiegten Männer, die heimkehren und nicht mehr die Frauen vorfinden, die sie zurückgelassen haben.
    Und dieser Krieg nach dem Krieg pflanzt sich fort bis ins was weiß ich wievielte Glied. Hast du das nicht gespürt?
    Deine Mutter hat es gewußt. Sie war eine kluge Frau, und ihr werdet sie womöglich nie verstehen.
    Du und der, der dein Vater hätte sein können. Ihr habt das billige Papier mit den Bleistiftspuren behandelt wie eine Reliquie, als ob eure Gebete erhört worden wären. Und ich habe zugeguckt und gewußt, daß nichts, was ihr dort lesen würdet, etwas erklärt oder hilft oder überhaupt nur das ist, was ein Mann über seine Verlobte, ein Sohn über seine Mutter erfahren will. Zumal der Graf etwas anderes hören möchte als du. Und umgekehrt.
    Vielleicht wäre es besser gewesen, das alles wäre dort unten liegengeblieben, bis es zu Staub zerfallen ist. Nach euch gibt es keinen mehr, den die Geschichte Mathildes noch etwas angeht.
    Doch dann denke ich wieder: es wollte gefunden werden, die Fotografie des Mädchens mit den ernsten Augen, die vielen eng beschriebenen Blätter, die beiden Miniaturen mit den Gesichtern aus einer untergegangenen Welt, die letzten durchsichtigen Fasern einer Rose.
    Du wirst mich für verrückt erklären, aber je länger ich darüber nachdenke, desto überzeugter bin ich davon, daß ich Mathildes Anwesenheit gespürt habe, seit ich angekommen bin in Blanckenburg. Mathilde war da. Und Ella, die Köchin. Und der russische Soldat, der Klavier spielte in der Nacht.
    Warum sonst drängte alles nach oben, was ich zu vergessen gelernt habe in den vergangenen Jahren? Ich hatte eine Liebe, Gavro. Ich hatte einen Bruder, Milo. Ich hatte Großeltern und ein Haus und Nachbarn in Glogovac. Und Jugendfreunde, die ihren Krieg mit Gavro auf mir austrugen. Ich war der Nebenschauplatz.
    Irgend etwas wollte, daß ich mich erinnere.
    Lach nicht! So ein alter Steinhaufen saugt Geschichte auf wie ein Schwamm. Und dieses verstaubte Päckchen dort unten in der Krypta … Es wollte gefunden werden, unter all dem Schutt und noch nach fast sechzig Jahren.
    Weißt du, was mich beschäftigt? Wieso hat Mathilde etwas, das ihr doch offenbar wichtig war, ausgerechnet unter der Ruine der Kirche versteckt? Hat sie immer noch geglaubt, daß es Unvergängliches gibt –
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