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Russisch Blut

Titel: Russisch Blut
Autoren: Anne Chaplet
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obwohl sie doch zugesehen hat, wie eine ganze Welt unterging? Muß man nicht Vertrauen in die Fortdauer haben, wenn man das bißchen, das man der Nachwelt überliefern möchte, ausgerechnet bei den Toten hinterlegt? Totenruhe, auf Jahrhunderte hin. Bei uns zu Hause haben wir das nicht gekannt. Jede Neuerfindung der Zukunft kostete Blutströme in der Gegenwart und forderte das Umdeuten der Vergangenheit. Wen man gestern feierlich zu Grabe getragen hatte, der wurde heute wieder ausgegraben, um morgen woanders verscharrt zu werden. Bei uns ist noch jeder Knochen mehrfach unter die Erde gekommen.
    Bei uns? Wo ist das schon. Heimat ist dort, wo die eigenen Toten ruhen, sagte man vor langer Zeit. Für Leute wie mich gilt das nicht – ich weiß von keinem einzigen Menschen, der mir etwas bedeutet hat im Leben, wo er begraben liegt. Merkt man mir das nicht an? Das haben Flüchtlinge so an sich: sie gehen nicht, um an einem anderen Ort anzukommen, und sie kommen nicht, um zu bleiben.
    Wie fremd wir einander sind. Hinter dir stehen Jahrhunderte, daran ändert auch das bißchen russische Blut nicht, von dem du behauptest, es habe die uralte Linie deiner Familie aufgefrischt. Wozu? Sie geht mit dir zu Ende.
    Ihr hattet beide Hoffnung im Gesicht, der Graf und du. Zuerst, später nicht mehr. Der Graf wollte Mathilde wiedererstehen sehen, wie er sie sich zusammengeträumt hat im Laufe der Zeit: eine Heldin, das auch. Aber vor allem ein Opfer, das Bild der Unschuld. Und zur Unschuld gehören ruchlose Täter, Verbrecher und Barbaren allesamt. Statt dessen ein nüchterner Bericht, über Fedor und Wanja, Männer, keine Unmenschen. Zwar haben auch die wilden Horden noch ihren Auftritt, aber kann man sich darauf verlassen, daß ausgerechnet einer von ihnen es war, der dir zu deinen Augen verholfen hat?
    Siehst du: so entstehen Zweifel.
    Die Zweifel hätten alles vergiftet. »Alles wäre leichter zu ertragen gewesen, als sie verloren zu haben.« Ich glaube nicht daran. Mathilde wäre bis ans Ende der Tage der Stachel im Fleische ihres Mannes gewesen. Sie ist aus Liebe gegangen – sie wußte, wem sie die Schande ersparen wollte.
    Die Schande. Hast du gehört, wie behutsam der Graf den brutalen Sachverhalt benannt hat, dem du dein Leben verdankst? Mathilde sei »geschändet« worden, hat er gesagt. Das ist ein Wort, das Männer benutzen. Männer sagen »entehrt«, weil sie an ihre Ehre denken, sie sagen »geschändet«, weil das, was ihren Frauen angetan wird, ihnen Schande bereitet. Ich ziehe »vergewaltigt« vor. Das kommt von Gewalt antun. Es ist der ehrlichere Begriff.
    Und was ist mit dir, fragst du? Sie wollte ihrem edlen Verlobten keinen halbasiatischen Bastard mit Erbberechtigung zumuten, sagst du. Ein Kind, das sie niemals hat lieben können, glaubst du. Warum hätte sie es sonst verlassen, als es fünf Jahre alt war?
    Vielleicht, weil sie dir solche Fragen nicht beantworten wollte. Ein Barbar, ein Unhold, das ist dein Erzeuger für den Grafen, es wäre ihm sicher unerträglich, wenn auch nur ein sympathischer Zug an ihm wäre. Aber ist nicht für ein Kind das Gegenteil wichtig, müßte man da nicht hoffen, es wäre Fedor gewesen, den sie zwar nicht geliebt hat, der ihr aber wenigstens keine Gewalt antat? Schließlich soll der kleine Junge ja irgendwann ein Mann werden wollen.
    Ja, ich weiß, du wirst dich ewig fragen, ob sie dich geliebt hat. Aber es sieht ganz danach aus.
    Und warum sollte sie es nicht getan haben? Es gibt kein Vergewaltiger-Gen, das sich fortpflanzt. Und glaub mir: das mögliche Ergebnis einer Vergewaltigung ist weit weniger schlimm als die Gewalt währenddessen. Und die Demütigungen.
    Und vor allem das, was danach kommt.
    Das, was danach kommt. Mein Vater kam, ich war im siebten Monat schwanger – von Mirko oder Djonjon, von Slobo oder Vladi oder Kujo. Der eine ist Politiker geworden, er macht seine Sache gut, glaube ich. Nur Djonjon haben sie vor ein Kriegsgericht gestellt. Er soll ein Fachmann im Foltern gewesen sein.
    Mein Vater kam. Ich habe meinen Vater nicht oft gesehen. Milo muß ihm etwas gesagt haben, mein Bruder, dessen Vorstellung von Ehre die Vergewaltigung seiner Schwester erträglich fand – nicht aber, daß sie einen liebte, der nicht die richtige Herkunft vorzeigen konnte. Mein Vater kam, er sagte nicht viel. Er hat mir das Kind aus dem Leib getreten, wenn du es genau wissen willst.
    Mein Vater, der mir das Leben gegeben hat, hat ein anderes Leben genommen. Ganz nach Belieben.
    Dabei war
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