Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rune

Rune

Titel: Rune
Autoren: Brian Hodge
Vom Netzwerk:
mindern. Ein Baum nach dem andern fing Feuer, und die Flammen schossen wie Pilze an den Bäumen hoch, um sich an der Spitze gewaltig zu bauschen. Das Feuer verzehrte sie mit einem Hunger, den man nur als unersättlich beschreiben konnte. Für einen Augenblick sah ich, wie sich die Überreste des größten Baumes vor Schmerzen krümmten.
    Shelly krallte sich in meine Schulter und lag halb auf meiner Brust, und ich hatte nicht die Kraft, ihr zu sagen, daß es höllisch weh tat. Und so lagen wir da, und die Tränen tropften auf den berstenden Asphalt, bis die Hitze fast unerträglich wurde und feine Asche wie Schnee niederging.
    Sie war klug genug, nichts zu sagen, es nicht einmal zu versuchen. Und auch ich schwieg. Ich starrte nur und bekämpfte den Nebel vor meinen Augen und die eisige Kälte, die sich in meine nasse Kleidung eingegraben hatte.
    Ich wußte nun, wie es ist, einen Teil seiner selbst zu verlieren. Wie es sich anfühlt, von einem Skalpell von einem Ende zum anderen aufgeschnitten zu werden und eine Hälfte des Herzens entfernt zu bekommen. Wie es sich anfühlt, wenn die Liebe so stark ist, daß sie einen zermalmt.
    Das war etwas, was man nie in Worten wiedergeben könnte. Ich konnte mir nur wünschen, daß Aaron, wo immer er jetzt auch war, herabsehen und es in mir erkennen konnte.
    Und ich vermute, daß das der größte Fehler ist, den wir alle heutzutage haben: Wir sehen erst hin, wenn es zu spät ist.
    Shelly half mir mit beiden Armen auf, und triefnaß gingen wir zu ihrem Wagen. Sie verfrachtete mich ins Auto, als der Hain in einem Inferno aufging und tosend eine schwarze Rauchsäule in den Himmel sandte.
    Und als sie uns wegfuhr, in Richtung Stadt und Krankenhaus, schaute ich an mir herab und sah, daß meine Kleider nur noch nasse und blutige Fetzen waren, und heiße Tränen strömten meine offenen Wangen herab. Ich sah aus dem Fenster und blickte zum letzten Mal auf Tri-Lakes.
    Auf den Scheiterhaufen der zwei besten Brüder, die man sich vorstellen kann.

EPILOG
     
    »Chris?« Es klang wie Mom. Schon wieder daheim? Die Sache mit Robin hatte sich wohl rasch erledigt.
    »Chris, bist du wach?«
    Meine Augen öffneten sich, und ich kletterte jene schmerzhafte Spirale hoch, die vom Schlaf zum Erwachen führt. Ich blinzelte in das Licht, das durch die Jalousien drang. Jalousien? Ein Fernseher war in einer oberen Ecke des Raumes mir gegenüber befestigt. Ein leeres Bett stand zu meiner Linken, und Dad fläzte sich in einen Stuhl in der Ecke und döste scheinbar. Wahrscheinlich stand er unter Beruhigungsmitteln. Alles sah blaß und steril aus. Wie in einem Krankenhaus.
    »Chris?«
    Mom saß auf einem Stuhl zu meiner Rechten. Ihre Augen waren rot und geschwollen von zu vielen Tränen.
    »Was für ein Tag ist heute?« Meine Stimme war ein heiseres Flüstern.
    Sie tätschelte mir die Hand. »Samstag. Es ist Samstag, Schatz.«
    Ich wollte schlucken, doch mein Hals war so trocken, daß es mir fast unmöglich war. »Wasser?«
    Sie nahm ein Glas vom Nachttisch und hielt es mir mit einem angewinkelten Strohhalm entgegen. Ich wollte mit meiner linken Hand danach greifen, doch mein Unterarm war sonderbar schwer – in Gips gehüllt. Ach ja.
    Morgens ist es am schlimmsten, hatte Aaron mir mal geschrieben, wenn man aufwacht und weiß, daß es kein Alptraum, sondern Wirklichkeit ist.
    Amen, Bruder. Du hast es gewußt.
    Ich beugte mich vor und sog an dem Strohhalm. Lauwarm. Aber gut, so gut.
    »Chris, was ist passiert?« Ihre Stimme bebte. »Was ist bloß geschehen? Kannst du uns das sagen?«
    Ich sank ins Kissen zurück, und meine Augen schlossen sich von selbst. »Später … wir reden später …«
     
    Ich nehme an, daß ich noch Glück hatte, was die Verletzungen betraf. Mein Handgelenk war gebrochen, und ich hatte eine Gehirnerschütterung, zudem zahlreiche Abschürfungen und Quetschungen und Zerrungen und all die anderen Begriffe, die Ärzte sich ausgedacht haben, um Verletzungen noch schrecklicher klingen zu lassen, als sie es ohnehin schon sind. Sie wollten mich übers Wochenende im Krankenhaus behalten, und ich hoffte, daß sie mich die ganze Zeit unter Drogen setzen würden, damit ich traumlos schlafen könnte. So gnädig waren sie jedoch nicht.
    Mom und Dad gingen, nachdem ich am Samstagmorgen wieder eingeschlafen war. Gewisse Vorkehrungen mußten getroffen werden. Vorkehrungen – ich hasse dieses Wort. Einer der absurden Euphemismen des Lebens, der die Qual verbergen soll, die es einem bereitet, für
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher