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Rune

Rune

Titel: Rune
Autoren: Brian Hodge
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den das Haus gebaut war, einem winzigen Wald, der am Tag jedes Licht verschluckte, um eine ewige Dunkelheit zu schaffen. Der Hain lieferte seinen Nichten viel Abwechslungen: an einem Tag war er ein Zauberwald voller Drachen und Feen und Prinzen, die früher oder später auftauchen würden. Am nächsten Tag war er voller Indianer auf dem Kriegspfad, und am Tag darauf wurde er zum schwärzesten Afrika, mit Löwen und Tigern hinter jedem Baum. Sarah und Maggie waren fünf und sechs Jahre alt; alles, was sie brauchten, war eine Kulisse für ihre Phantasie.
    Doch aus irgendeinem Grund, der jeder Logik entbehrte, mochte Joshua diesen Hain nicht. Wenn er ihn aus dem Mansardenfenster betrachtete, war es, als stünden sich zwei Fronten in einem kalten Krieg gegenüber. Er konnte leicht den größten Baum am Rand des Wäldchens erkennen, der feucht und schwarz im Licht eines Blitzes schimmerte, ein monolithisches Ungetüm, das endlos viele Arme ausbreitete und zurückstarrte. Egal von welcher Seite man sich diesem Baum näherte, stets schien er sich in diese Richtung zu neigen. Welche Geheimnisse verbarg – bewachte er?
    Er erinnerte sich daran, wie Anfang letzter Woche die Mädchen zu ihm gekommen waren, gepackt in Pullover und Mützen, mit leuchtender Aufregung in ihren Augen.
    »Und was wollt ihr von mir?« hatte Joshua abgeblockt.
    »Du mußt uns draußen helfen«, sagte Sarah.
    »Was ist denn so schwer, daß ihr es nicht selbst tun könnt?«
    »Wir wollen ein Loch nach China graben!« rief Maggie und hüpfte auf und ab, wobei Doris’ Kristallgläser im Regal klapperten.
    Zuerst war er gegen die Idee, er hatte ja zu tun, doch eine beständige Litanei von bitte-bitte-bitte zermürbte ihn schließlich. Doris war arbeiten bei der Telephongesellschaft und konnte die Mission nicht untersagen, und da für Josh das Leben nur noch Arbeit ohne Spiel war, gingen sie los. Joshua griff sich draußen eine Schaufel, und die Mädchen schwangen alte Suppenlöffel aus der Geschirrkammer. Sarah und Maggie wählten einen kleinen, rechteckigen Hügel als Grabungsort und jubelten, als Joshua ihn bestieg und den ersten Stich machte. Nachdem er mit der Feuerholzaxt einige Wurzeln beseitigt hatte, ging die Arbeit gut voran.
    Bald würde das Spiel sie langweilen. Natürlich.
    Und das dachte er jeden Nachmittag, wenn er ihren lärmenden Abschied vom Schulbus hörte und alle Arbeit an der Dissertation zum unerbittlichen Ende kam. Er schlich zurück zu dem immer größer werdenden Loch und hatte nicht den Mut, das Handtuch zu werfen, wenn die Mädchen ihn angrinsten, während sie am Rand den Schmutz mit ihren Löffeln lockerten. Am Freitag schließlich, in einer Tiefe von mehr als vier Fuß, stieß Joshuas Schaufel gegen soliden Fels. Erwartungsvolles Schweigen überkam die Mädchen. Joshua kratzte die Erde fort und sah einen breiten, flachen Stein.
    Maggie stieg neben ihn ins Loch, stampfte einige Male mit dem Fuß auf und grinste ihn dann siegesbewußt an. »Wir sind daaaa!«
    Johlend liefen sie davon, um ihren Triumph zu feiern, während Joshua eine weitere Stunde schwitzte, um den Stein vom Lehm zu befreien. Neugierig starrte er ihn an. Selbst durch Dreck und Lehm konnte man erkennen, daß er fast völlig rechteckig war, zu rechteckig jedenfalls, um nur durch Zufall so zu sein. Etwa drei Zentimeter breit, vielleicht fünfundvierzig Zentimeter hoch und zehn Zentimeter tief. Er schleppte ihn hinters Haus und befreite ihn vom Schmutz.
    Nervenzehrend langsam nahmen die Furchen auf der einen Seite Gestalt an. Er erkannte eine unfehlbare Anordnung, sie umgrenzten den äußeren Rand der Fläche wie die Schrift auf einem Reifen. Es sah wie ein primitives Alphabet aus – krude Figuren wie aus Stöckchen, einfache geometrische Formen. Es entsetzte ihn, vielleicht über die Reste einer lange versunkenen Kultur gestolpert zu sein und möglicherweise schon etwas zerstört zu haben. Er kannte einige Professoren von der Washington-Universität in St. Louis, die zweifellos daran Interesse hätten, sich den Stein einmal anzusehen, doch er hatte Zweifel, daß man es dabei belassen würde. Und das Letzte, was er gebrauchen konnte, war ein Haufen Menschen, der ihr abgeschiedenes Heim in eine archäologische Grabungsstätte verwandeln und ihren friedlichen Alltag zunichte machen würden. Vielleicht könnte er selbst etwas herausfinden, wenn er vorsichtig tiefer graben würde.
    Sarah und Maggie stellten bald fest, daß sie immer noch keinen richtigen Chinesen
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