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Rune

Rune

Titel: Rune
Autoren: Brian Hodge
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Und da war er, Chris Anderson, auf Seite 117. Ein helles Jackett, dunkles Hemd, eine Krawatte in einem Ton irgendwo dazwischen. Er hatte gelächelt, mit einer Andeutung von Schadenfreude, und die meisten Mädchen fanden dieses Gesicht wohl gutaussehend. Und jedermann hätte es sorgenfrei genannt.
    Der arme Kerl. Irgendwo hatte er diese unschuldigen Augen verloren. Das Leben hatte ihm ins Gesicht getreten, seit dieses Foto geschossen worden war, wieder und wieder. Man konnte es an seinen Augen sehen, in jenen winzigen Linien um sie, die vielleicht von Streß stammten oder von mangelndem Schlaf – die aber gar nicht hätten da sein dürfen.
    War er wirklich sieben Jahre jünger als sie? Letztes Jahr, als man dieses Foto gemacht hatte, war er das. Aber nun? Er war in etwas geraten, das ihn weitaus schneller altern ließ als andere. Doch zumindest legte er sich nicht hin und stellte sich tot. Er kämpfte dagegen an, stellte sich allem entgegen und stand immer wieder auf, wenn er eins auf den Kopf bekam.
    Vielleicht war er jung – doch vielleicht könnte sie noch manches von Chris Anderson lernen.
    Und als eine näselnde Stimme auf dem Polizeifunk seinen Namen durchgab, richtete sie sich wie unter Schock auf.
    »Fahrerflucht«, sagte die Stimme. »Das Nummernschild weist auf einen Chris Anderson hin. Er machte noch nicht einmal Anstalten, anzuhalten. Zuletzt hat man ihn auf der Tenth Street mit Höchstgeschwindigkeit in Richtung Norden fahren sehen …«
    Norden, dachte sie. Und die Tenth führt auf die Route 37, und die wiederum …
    Shelly war aufgestanden und in ihren Mantel geschlüpft, bevor sie überhaupt wußte, was sie tun würde. Und als sie sich sicher war, hatte sie bereits die Tür hinter sich abgesperrt.

45.
     
    Die Fahrt nach Tri-Lakes war mir noch nie so lang vorgekommen. Und als all die Bäume und Häuser und Briefkästen an mir vorbeischossen, gingen mir alle Geschehnisse der letzten Monate wieder durch den Kopf. Als würde mein Leben vor meinen Augen ablaufen.
    Was für ein schlauer, schlauer Bastard Olaf doch war. Er hatte mit meisterlicher Hand alles auf mich und Aaron zugeschnitten. Erst hatte er meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, indem er die Leiche von Dennis Lawton auf mich gehetzt hatte, um diese ominöse Botschaft in den Dreck zu kratzen. Dann hatte er sich um unser Privatleben gekümmert, Beziehungen zerstört und Freunde ermordet, so daß wir schließlich niemanden mehr zur Unterstützung haben würden. Rick, Bobby, Mitch, Mary – sie hatten nichts getan, als zur falschen Zeit mit den falschen Leuten befreundet zu sein. Und dann hatte er Hürdenspringer geopfert, der nur ein willenloses Werkzeug für sein Vorhaben gewesen war. Und wir hatten uns vor allem und jedem gefürchtet, weil wir nicht wußten, in welcher Gestalt er als nächstes kommen würde. Und schließlich hatte er sich die größte Überraschung bis zum Schluß aufgehoben: Bruder gegen Bruder. Wir hatten ihm die ganze Zeit über nur in die Hände gespielt.
    Doch dann dämmerte mir, daß Olaf sich selbst seinen schlimmsten Feind geschaffen hatte – in mir. Hätte er all das Blutvergießen und Leiden in fünf oder sechs Tagen auf einmal passieren lassen, so hätte er mich mit einem Fingerschnippen auslöschen können. Doch er hatte zu lange mit mir sein Katz-und-Maus-Spiel gespielt. Und er hatte mich hart gemacht, wie niemand anders es hätte tun können. Ich war bereit, ihm zu seinen Bedingungen gegenüberzutreten – und ihn dazu zu zwingen, auch die meinen anzuerkennen.
    Einige Meilen vor der Landstraße 1250N bemerkte ich den starken Benzingeruch im Wagen. Nicht überraschend, wenn man bedenkt, daß es seit meiner Abfahrt auf die Rohre getropft war. Und die Zeit war gekommen.
    Ich drückte das Gaspedal durch, ließ den Motor aufheulen und den Tachometer hochspringen. Das Klagen des Motors wurde immer schriller, eine einzelne Note, die auf einer endlosen Tonleiter nach oben kletterte, und das Auto fing leicht zu zittern an. Ich hoffte und betete, daß mein Glück noch ein bißchen länger währen würde. Und dann hörte ich schließlich ein anderes Geräusch, das ich seit der Fahrt nach Chicago vor langer Zeit nicht mehr vernommen hatte – der Vergaser fing Feuer.
    Zischende Flammen …
    Bald roch ich das betäubende Aroma von schmorendem Metall und schmelzendem Gummi, und die Temperatur stieg beständig. Ich hoffte, daß der Malibu, der während der letzten Jahre so etwas wie ein Freund geworden war, nicht vor dem Ende
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