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Rune der Knechtschaft

Titel: Rune der Knechtschaft
Autoren: Ange Guéro
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geworfen habe, habe ich lesen und schreiben gelernt. Allein. Azarîn hat das bemerkt; er hat Zuneigung zu mir gefasst.« Trotz der Situation schien eine gewisse Melancholie in den Augen der jungen Frau auf. »Er hat seine Mahlzeiten mit mir geteilt und mich heimlich unterrichtet.«
    »Unterrichtet. Ein Kind vom Türkisvolk.«
    »In der Tat«, sagte Marikani eisig. »Und als … als dann die andere … starb …«

    »Die echte Marikani …«
    Die junge Frau nickte. »Als sie im Alter von sechs Jahren starb, rief er Lionor und mich ins Zimmer. Der kleine Leichnam lag auf dem Bett. Wir streiften ihm meine Kleider über, und ich zog seine an. Die Eltern des kleinen Mädchens hatten sie seit Jahren nicht mehr gesehen, und die Leute im Sommerpalast kannten die Kleine kaum: Sie war sehr schwächlich und verließ ihr Zimmer meist nicht. Und außerdem hatten die Leute andere Sorgen. Die Seuche hatte den Palast in weniger als drei Wochen leergefegt. Überall lagen Leichen. Blut und Erbrochenes befleckten die Böden. Es war … ein Weltuntergang, eine Abscheulichkeit, die nur Frauen und Kinder befiel.« Sie seufzte. »Als die neuen Diener aus Harabec eintrafen, gab es nur noch wenige Überlebende, darunter Azarîn, Lionor und mich. Lionor war die Einzige, die uns hätte verraten können. Aber das tat sie nicht. Wir waren Freundinnen geworden, und sie beschützte mich. Sie hat mich immer beschützt, ganz so, wie sie auch versucht hat, mich vor Euch zu beschützen, als sie dachte, Ihr hättet es herausgefunden.«
    Arekh ging zur Tür hinüber und versetzte der Wand wütend einen Schlag; dann drehte er sich um. »Und Eure Eltern?«
    Marikani lachte bitter auf. »Meine Eltern waren tot«, zischte sie. »Der Sklavenaufstand … Erinnert Ihr Euch? Sie sind im Hof angekettet und umgebracht worden. Vor meinen Augen. Vor allen, die da waren.«
    Der Schmerz ließ ihre Stimme zittern, aber Arekh hörte nicht hin. Zorn, Enttäuschung und Abscheu waren zu stark. Die Worte der Frau mit dem geborgten Namen, die vor ihm stand, spielten keine Rolle. Ihre Lebensgeschichte spielte keine Rolle. Was zählte, waren die Blasphemie, die
Beleidigung der Götter, die Strafe, die eines Tages auf das Land herniedergehen würde …
    »Ihr habt kein Recht, den Thron zu besteigen«, stieß Arekh hervor und tigerte auf dem Gang auf und ab wie eine Raubkatze im Käfig. »Ihr belügt Euer Volk, Eure Diener, Eure angebliche Familie, Eure Ratgeber … Ihr seid nichts als Lüge. Jede Eurer Handlungen ist von den Göttern verflucht.«
    »Oh, hört doch mit diesem Unfug auf!«, rief Marikani, die ihrerseits in Zorn zu geraten schien. »Habt Ihr Euch je mit der Geschichte Harabecs befasst? Seit zweihundert Jahren hat diese Dynastie nur Schwachsinnige und Jähzornige hervorgebracht. Die Inzucht hat sie vernichtet, sie sind alle verrückt … Ich herrsche seit fünf Jahren über dieses Land, und es ist ihm noch nie zuvor so gut gegangen.«
    »Darum geht es nicht …«
    »Oh doch, genau darum geht es! Nur das Ergebnis zählt. Die Grenzen, der Handel, das Volk, das volle Bäuche hat, die Kornspeicher, die mit Weizen gefüllt sind …«
    »Nein!«, schrie Arekh, und Marikani warf einen Blick zum Gerichtsgraben hinüber, um zu sehen, ob irgendjemand ihn gehört hatte. »All das ist doch nur oberflächlich! Harabec muss einen Herrscher aus dem Blut des Arrethas haben!«
    Marikani verdrehte die Augen zum Himmel, und Arekh fuhr zornig fort: »Ihr seid nichts als … als ein Geschöpf aus dem Schlamm! Und das dort, wo das Blut der Götter herrschen sollte!«, flüsterte er und senkte die Stimme, ohne recht zu wissen, warum.
    »Ihr fällt stets sehr rasch ein Urteil über andere, Nde Arekh. Erinnert Ihr Euch nicht mehr an das, was Ihr getan habt? Ich bin keine Verbrecherin. Ich habe nur zum Wohle aller gehandelt.«

    »Die echte Marikani …«
    » Ich bin die echte Marikani!«, rief die junge Frau. »Ich trage diesen Namen seit achtzehn Jahren - drei Mal so lange wie das arme Kind, das gestorben ist, ohne mehr als zwei Mal aus seinem Zimmer herausgekommen zu sein. Ich bin die Herrscherin von Harabec, weil ich dieses Land liebe und weil ich dafür kämpfe. Und wenn Ihr das nicht erkennt, seid Ihr ein Dummkopf!«
    Arekh hob die Hand, um sie zu ohrfeigen, ballte dann aber die Fäuste und wandte sich ab. »Wie auch immer … Ihr werdet nie Erfolg haben«, flüsterte er hasserfüllt. »Irgendwer wird es bemerken. Das Mal der Verdammnis auf Eurem Rücken …« Da erinnerte er sich,
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