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Ruf der Geister (German Edition)

Ruf der Geister (German Edition)

Titel: Ruf der Geister (German Edition)
Autoren: Tanja Bern
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angegriffen zu werden. Noch immer erschrak sie bei dem Gedanken, dass sie an diesem Abend fast ihr Leben verloren hätte.
    Er hat mich mit einem Schocker außer Gefecht gesetzt! , sagte sie sich ständig. Ich war gefesselt und konnte nichts tun!
    Dennoch fühlte sie sich wie ein Schulmädchen, das je gliche Verteidigung vergaß, sobald sie in Bedrängnis kam. Schon mehrmals hatte Erich sie darum gebeten, mit dem Polizeipsychologen zu sprechen. Sie sträubte sich noch dagegen. Weigerte sie sich zuzugeben, dass die Geschehnisse sie mitgenommen hatten?
    Lea musste diese Frage mit einem klaren Ja beantworten. Der Einzige, dem sie sich wirklich anvertraut hatte, war Joshua. Und nur er begriff ihre Worte, las aus ihren Gesten, verstand ihre Stotterei.
    Ihr Blick fiel auf einen Zeitungsartikel. Mit einem Schaudern betrachtete sie das Bild des alten Torhauses der Zeche Bergmannsglück. Die Stadt hatte beschlossen , die zerfallenen Gebäude dort endlich abzureißen.
    Die Anwohner rebellierten noch dagegen, aber Lea b egrüßte das Vorhaben. Dann bräuchte sie diesen Ort nie wiederzusehen. Sie wusste, das würde die Geschehnisse jenes Abends nicht rückgängig machen − aber es fühlte sich gut an. Wenn doch nur ihre eigenen Mauern so leicht einzureißen wären, wie die des alten Gemäuers.
    Lea wandte sich ab und ging zurück ins Wohnzimmer. Joshua saß auf der Couch, trug eine filigrane Brille und schaute nachdenklich alte K inderfotos an.
    „Du siehst süß aus mit Brille“, sagte Lea mit einem L ächeln.
    Ertappt fuhr Joshua auf und nahm sie ab.
    „Du musst nicht …“, wehrte Lea ab.
    „Ich brauche das Ding eigentlich nur zum Lesen“, e rwiderte er mit einem verhaltenen Lachen.
    „Ich hab dich schon mal auf dem Revier damit gesehen, als du die Akten studiert hast.“ Sie setzte sich zu ihm. „Siehst du dir immer noch alte Fotos an?“
    „Ich versuche, es zu verstehen.“
    „Was, Joshua?“
    „Warum ich es all die Jahre nicht gesehen habe – es nicht sehen wollte.“
    Eine Weile schwieg Lea und beobachtete Joshuas Pr ofil. Erneut setzte er die Brille auf und sah auf ein Foto, das ihn und Mark zeigte. Sie trugen nur Badehosen, schienen bei Joshuas Eltern zu sein und hatten jeweils den Arm um die Schultern des anderen gelegt. Beide Kinder lachten und kein Schatten schien diesen Augenblick zu trüben.
    Joshua legte das offene Album auf den Tisch und leh nte sich zurück. Nachdenklich starrte er auf die eingeklebten Fotos. Lea sah ihm seinen inneren Kampf an.
    „Mark wollte damals immer zu uns kommen. Und wenn wir bei seinen Eltern in der Zechensiedlung waren, spielten wir meist am Torhaus. Bis …“ Joshua schwieg.
    „Bis sie ihn dort einsperrte“, endete Lea.
    „Ja, danach mied er die Zeche wie die Pest.“
    Sie dachte an ihre eigene Kindheit zurück. Wohlbehütet war sie mit ihrem jüngeren Bruder Tobias aufgewachsen, der sie stets wie ein Juwel behandelte. Sie liebte ihn auf eine ganz besondere Weise. Nadjas Hass konnte sie nicht nachvollziehen. Die Vermutung lag nahe, dass sie misshandelt worden war, ehe sie in eine Pflegefamilie kam.
    Der Auslöser für Marks Veränderung musste der Tod der Mutter gewesen sein. Für jeden Mord gab es eine Szene, an die Joshua sich im Nachhinein erinnerte. Ihn plagten Schuldgefühle, das wusste sie. Ständig versuchte sie ihn daran zu erinnern, dass die meisten Menschen die Details ihrer Kindheit schlicht vergaßen. Dafür beruhigte er sie dann, was die Angst vor ihrer Wohnung betraf.
    Lea lehnte sich an ihn und kuschelte sich an seine Schulter. Sein Gesicht schillerte noch in Grün- und Gel btönen. Schwellungen sah man nicht mehr. Nur die Schiene am Arm blieb ihm sicher noch einige Wochen erhalten. Sie selbst war glimpflich davongekommen. Manchmal fiel ihr das Atmen noch schwer und die Prellung des Schusses schmerzte zuweilen bei jeder Bewegung.
    Es würde heilen, sie lebte und das war das Wichtigste.
     
    *
     
    Joshua zog Lea noch ein wenig dichter an sich. Er wol lte sie am liebsten nie wieder in ihre Wohnung lassen! Ihre Gegenwart gab ihm Frieden, schenkte ihm Ruhe.
    Die Fotos, die Mark stets lachend zeigten, schienen ihn zu verhöhnen. Manchmal war früher ein ungutes Gefühl in ihm hochgekommen, wenn Nadja zugegen gewesen war, aber so war das, wenn man Geschwister hatte und die sich nicht gut verstanden, Joshua kannte das und dachte sich nichts dabei. Wie alle anderen verdrängte er Marks Not, sah nicht hin, bewertete sie falsch.
    Selbstvorwürfe gaben kein Leben
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