Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Roter Herbst - Kriminalroman

Roter Herbst - Kriminalroman

Titel: Roter Herbst - Kriminalroman
Autoren: Gmeiner-Verlag
Vom Netzwerk:
fühlte sich plötzlich hilflos. Er wartete eine Weile, ohne recht zu wissen, was er tun sollte, dann machte er sich auf den Weg in Richtung des Baumes. Als er sich nach wenigen Schritten umwandte, stellte er fest, dass der andere weitergelaufen war.

    Im Grunde war es reiner Zufall gewesen, dass Bichlmaier nach seiner Flucht aus Regensburg in M. gelandet war. Er konnte nicht einmal sagen, ob es wirklich eine Flucht gewesen war, die ihn hierher geführt hatte, doch hatte ihn zumindest der Wunsch getrieben, aus der Enge seines bisherigen Lebens auszubrechen. Es waren die Enge seines beruflichen Lebens, die Enge der Stadt, sogar die Enge des Voralpenlandes gewesen, das Gefühl, von erdrückenden Bergen umgeben zu sein, die ihn dazu veranlasst hatten. Dabei hatte er anfangs nicht einmal sagen können, wohin es ihn zog.
    »Wohin willst du denn?«, hatte ihn Marianne gefragt, als er ihr bei einem ihrer Telefonate von seinem Entschluss berichtet hatte.
    »Weg«, hatte er gesagt. »Nur weg von hier.«
    Weg aus seinem bisherigen Leben.
    Einige Tage darauf hatte er sich in sein Auto gesetzt, nur mit dem Notwendigsten versorgt, und war in nördlicher Richtung losgefahren. Ohne Ziel. Er hatte sich von niemandem verabschiedet. Nicht einmal von seiner Mutter, die, in einem teuren Heim südlich von München untergebracht, auf den Tod als ihren Erlöser harrte.
    Er war mehrere Stunden gefahren. Irgendwann, als er Hunger verspürt hatte, war er von der Autobahn abgebogen, war eingekehrt, und hatte sich danach treiben lassen über Landstraßen, die immer schmaler und schlechter geworden waren, hatte mehrmals die Richtung gewechselt, kleine unbekannte Städte und verschlafene Dörfer passiert, und war schließlich in M., einem Städtchen am Rande des großen Moores, gelandet. Erst als er durch das alte Stadttor gefahren war, war ihm klar geworden, dass er schon einmal hier gewesen war.

    Adolf Bichlmaier blickte auf seine Armbanduhr. Ein Reflex aus seiner Zeit als aktiver Polizist. Wichtige Ereignisse mussten in ihrer zeitlichen Abfolge festgehalten werden. Erst dadurch bekamen sie Gewicht, wurden Teil einer Ordnung, an die Polizisten glauben konnten. Zeit ist der unerbittliche Maßstab, nach dem sich das Leben ausrichtet. Es war genau 16.30 Uhr. Vor einer viertel Stunde hatte er mit dem jungen Mann gesprochen. Als er im Gehen innehielt und sich ein weiteres Mal umwandte, war der längst verschwunden. Vielleicht würde er den Kollegen in die Arme laufen, dachte er ohne große Hoffnung.
    Er richtete den Blick wieder nach vorn. Der kahle Baum war weiterhin ein ganzes Stück entfernt, aber deutlicher zu erkennen. Um ihn zu erreichen, musste er den Bohlensteg, dem er bislang gefolgt war, verlassen. Bichlmaier seufzte. Das Gehen auf dem weichen, nachgiebigen Boden abseits des befestigten Touristenweges strengte ihn an. Das ärgerte ihn. Früher hatte er solche Probleme nie gehabt. Ein Vogel stieß aus der Höhe herab und flog nur wenige Meter an ihm vorbei, segelte mit ausgebreiteten Schwingen auf den toten Baum zu, ließ sich im Gewirr der Äste nieder und verschwand darin.
    Als er schließlich bis auf wenige Meter an den Baum herangekommen war, erkannte Bichlmaier, was den Mann, dem er vor wenigen Minuten begegnet war, so erschreckt hatte. Aus dem Stamm des toten Gehölzes wuchs der nackte Torso eines Mannes heraus. Dieser war Teil des hölzernen Gestrüpps geworden und ragte, wächsern und bleich, wie die fahlen Äste, die ihn trugen, in den weiten Himmel über ihm. Das Gesicht des Mannes war zu einem Grinsen verzerrt und er blickte hämisch auf den Kommissar herab. Dazu hatte er die Arme in unnatürlicher Weise nach oben gestreckt, so, als wollte er sich damit in letzter Verzweiflung in die Höhe ziehen. Als Bichlmaier jedoch genauer hinschaute, erkannte er, dass die Hände des Mannes und zum Teil auch seine Unterarme fehlten. Da waren nur dunkle Stümpfe, die zum Himmel zeigten. Ganz offensichtlich war der Mann Opfer eines Verbrechens geworden, war schrecklich verstümmelt worden.
    Bichlmaier war stehen geblieben. Er sah, wie der Wind das Haar der Leiche sanft bewegte. Etwas am Gesicht des Toten war eigenartig, aber erst, als er noch einige Schritte getan hatte, wurde ihm klar, dass wohl die Vögel ganze Arbeit geleistet hatten. Es waren schwarze, schrecklich leere Augenhöhlen, aus denen der Mann auf ihn herabstarrte.
    Einen Moment lang dachte er, er würde ihn kennen, hätte ihn schon einmal gesehen, irgendwann vor langer Zeit.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher