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Rot Weiß Tot

Titel: Rot Weiß Tot
Autoren: Bernhard Salomon
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stand davor, als wäre der Mann kein Musiker, sondern ein Heiliger gewesen. »Keine Ahnung«, sagte Albin. »Fahren wir einfach los.«
    »Wie spät ist es?«
    Es war kurz vor vier Uhr morgens, rund dreißig Minuten vor dem Augenblick, in dem Ronald Markovics beim Heidentor den Boden unter den Füßen verlor.
    Albin fuhr sein schaukelndes Gefährt langsam die breite Mariahilfer Straße mit ihren zahllosen, jetzt dunklen Läden und Imbiss-Lokalen hinunter. Sarah und er hatten heute Nacht ein ungewöhnliches Namensfest gefeiert: Vor genau fünfundzwanzig Jahren war er von Mitarbeitern der Stadtreinigung im Wiener Prater als Findelkind aufgelesen worden. Die Ärzte und Krankenschwestern im Elisabeth-Kinderspital hatten ihn spontan nach der Marke seiner winzigen Kappe Albin getauft.
    Babyklappen an den Rückseiten von Krankenhäusern für überforderte Mütter hatte es damals noch nicht gegeben. Am letzten Tag des Volksstimmefestes, der traditionellen Herbstveranstaltung der Wiener Kommunisten, war Albin in der hintersten Falte einer Hüpfburg zurückgeblieben. Weder das Fürsorgeamt noch die Polizei hatten je herausgefunden, weshalb Albins Mutter ihn als kaum Einjährigen nicht mehr hatte behalten wollen oder können.
    Damals war Albin auf der Titelseite des Wiener Boten abgebildet gewesen. Alle Herzen waren ihm zugeflogen. Das hatte sich geändert, als er durch die Mühlen der Behörden gegangen war und durch die Hände von Adoptiveltern, die sich nach zwei Jahren scheiden ließen. Am Ende eines langwierigen Verfahrens war Albin wieder der Obhut des Staates anvertraut worden.
    Sarah fröstelte, denn die Heizung des Citroën produzierte noch nicht genug Warmluft. Sie knöpfte die braune Cordjacke über ihrer violetten Bluse zu und drückte das Kinn an die Brust. Ihr lockiger Haarschwall schwappte schwarz und glänzend nach vorne. »Wenn du so weitermachst, überholen uns noch die Fußgänger«, murmelte sie.
    Sie rollten am Gänsemädchenbrunnen vor der Rahlstiege vorbei, einer jener Spuren des alten Wien, die in dieser am stärksten frequentierten Einkaufsmeile der Stadt tagsüber im Meer der kauflustigen Passanten und der marktschreierischen Ladendekorationen untergingen. Albin ließ sich nicht drängen. »Wir verpassen nichts«, sagte er. »Außerdem ist lautlos durch die Nacht gleiten wie fliegen.«
    Sarah rückte in ihrem Sitz nach unten und stemmte die Knie gegen die braune Innenverkleidung des 2CV. »Wie du meinst.«
    Albin mochte ihren dunklen Teint, ein Erbe ihrer Mutter, die bei der UNO arbeitete, und ihres Vaters, eines Aufsteigers im Immobiliengeschäft. Albin gefiel auch Sarahs etwas unregelmäßiges Gesicht mit den großen Augen, die in Momenten der Aufregung besorgniserregend rollen konnten. Ihr fließender Haaransatz und ihre dichten Locken waren für ihn eine ständige erotische Provokation. Doch vor über zehn Jahren, als sie sich in einer der dunkelsten Phasen seines Lebens zum ersten Mal begegnet waren, hatten sich die Weichen zwischen ihnen auf reine Freundschaft gestellt.
    »Ich weiß jetzt, was wir machen«, sagte er und gab Gas. Sie überquerten den Getreidemarkt. Links von ihnen dunkelte hinter einer Reihe niedriger Kiefern mächtig das Kunsthistorische Museum. Am Ring bog Albin Richtung Universität ab.
    »Wie lange werden wir fahren?«, fragte Sarah.
    »Fünfzehn Minuten.«
    Mit ihren 28 PS, von denen bestenfalls noch zwanzig arbeiteten, würden sie mindestens eine halbe Stunde bis zu dem von Albin auserkorenen Ziel brauchen. Doch in fünfzehn Minuten würde es schon warm im Wagen sein. Sarah würde schlafen oder sie würden in ein Gespräch vertieft sein. Dann würde es ihr auf die zweite Viertelstunde auch nicht mehr ankommen, hoffte er.
    Albin wollte zu dem pompösen Monument eines unbedeutenden römischen Herrschers namens Konstantin. Es steht an der Bundesstraße nach Bratislava, nahe einem archäologischen Park und der Ortschaft Petronell-Carnuntum.
    Er fand das Gemäuer grotesk. Kaiser Konstantin hatte durch nichts als dieses selbstherrliche Bauwerk die Aufmerksamkeit der Nachwelt auf sich gelenkt. Während seine Statue längst verschwunden ist, steht die Ruine wie eine Fata Morgana zwischen Mais-, Kartoffel“ und Weizenäckern. Sie ist massiv in ihrer steinernen Klotzigkeit und gleichzeitig seltsam leicht, als könnte sie der stete Wind auf dem flachen Land östlich von Wien jederzeit fortwehen: das Heidentor.
    »Der Ort bedeutet mir sehr viel«, sagte er zu Sarah. »Als ich mit
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