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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit
Autoren: Georg Klein
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Landen. Die haarigen, fast wolligen Hinterleiber trugen alle den gleichen roten Fleck, und an den Beinchen klebte goldene Beute. Jede Erdbiene steuerte zielstrebig einen bestimmten Eingang an, obwohl bestimmt ein paar Dutzend Ritzen und Löchlein in die Hohlräume unter den Kohlequadern führten. Die wilden Immen ließen sich nicht vom Aufstieg der Kinder stören. Der Haufen war im Lauf der Jahre so fest in sich versackt, dass ihre Katakomben, ihre Speicher und Aufzuchtstätten, unter dem Stapfen der kleinen Menschen nicht in Gefahr gerieten.
    Erst als sie alle acht jenseits der Bärenkellermauer standen, erkannten sie an der Farbe des Lichts und am Geruch der Luft die Stunde. Es ging schon auf den ganz normalen Siedlungsabend zu, sie mussten sich beeilen. Die Kleine, die sich die nackten Füße schlimm an den Dornen der Heckenrosen aufgerissen hatte, Sybilles Schwesterchen, das nur noch leise greinte, weil ihm zum richtig Weinen oder zum üblichen Herumgeplärre die Kräfte fehlten, setzten sie in die Zwillingskarre. Der Ältere Bruder holte seine neuen Krücken aus der grünen Couch. Und dann rollten und stapften und humpelten sie, so schnell es halt gemeinsam ging, über Stock und Stein und Kies und schwarzen, noch sonnenwarmen Teer nach Haus.

Sonnentag
    Von Herzen willkommen in der Neuen Siedlung! Die Sonne ist blank wie Konservendosenblech, der wolkenlose Himmel prunkt mit klassisch reinem Blau. Der letzte Sommermonat wirft sein präzises Licht in den Kreuztöterweg, in die Einkaufsstraße der Neuen Siedlung, veredelt mit Wehmutsdeutlichkeit jedes einzelne der Geschäfte. Wieder zeigt sich der erste Ferientag der Kinder von seiner besten Seite. Die Freunde stehen Schulter an Schulter vor dem Schaufenster des Tabak- und Zeitschriftenladens und sehen sich gemeinsam an, was Horst Geistmann erst gestern Abend neu arrangiert hat. Die Zigarettenkistchen und die Feuerzeuge wurden bloß ein bisschen herumgerückt, aber die Bücher sind ausnahmslos frisch eingetroffen. Ein jeder dieser noch nach Druckerei duftenden Bände ist ab sofort gegen eine bescheidene Wochengebühr oder gegen die für Langsamleser günstigere Vierzehn-Tage-Zahlung auszuleihen. Selbst die Verlängerung auf eine dritte oder vierte Woche kostet nicht die Welt.
    Die Freunde wetteifern in der Beratung des Älteren Bruders. Sie wissen, dass er stets neben seiner Mutter an Geistmanns Theke steht und mitbedenkt, welche Bücher in den Drosselgrund, in den dritten Aufgang des erbsengrünen Blocks, getragen werden sollen. Wer zwei Romane nimmt, bekommt einen dritten gratis hinzu. Die Mutter hat sich auf ein Pensum von drei Romanen pro Woche eingelesen. Und weil sie sich an der Freude ihrer Kinder freuen kannwie an nur wenig sonst, darf unser großer Bruder über das dritte Buch allein entscheiden – mit einer grandiosen Willkür, deren Vorstellung seine Freunde jedes Mal von neuem schwindeln macht. Während der Ältere Bruder in Ruhe die Vorder- und die Rückseiten der ihnen vorgelegten Bände studiert und auch die eine oder andere erste Seite liest, plaudert Horst Geistmann mit seiner besten Ausleihkundin über Fragen der Literatur, zum Beispiel über ein Problem, das ihm wie ihr so arg am Herzen liegt, dass sie in schöner Regelmäßigkeit darauf zu sprechen kommen. Bis sich der Buchverleih, der in den letzten Jahren schon recht schwindsüchtig geworden ist, endgültig nicht mehr lohnen wird, soll es ihr Lieblingsthema bleiben: Wie traurig oder lustig darf oder muss das Ende eines Buches sein?
    Die Freunde unseres großen Bruders, von denen auch in Zukunft keiner freiwillig ein Druckwerk ohne Bilder aufschlägt, die sich aber gern erzählen lassen, was er gelesen hat, geben sich, die Nasen ans Glas gedrückt, die allergrößte Mühe, ihn richtig zu beraten. Die Umschläge, die sie knallgrell vor Augen haben, sagen genug, um den jeweiligen Roman, als wäre er Wolf, Tiger oder Bär, seiner unverwechselbaren Art wie einer Raubtiergattung zuzuordnen. Zugleich glauben sie fest daran, dass die Gewalt, mit der eine Geschichte ihre Zähne und Klauen in den Leser gräbt, bereits als eine gruselig schöne Drohung in ihrem Titel zutage tritt. Sybille genügt es, die ahnungsreichen Wörter in Gedanken aufzusagen. Der Schniefer und der Ami-Michi bewegen stumm die Lippen. Der Wolfskopf aber muss Wort für Wort flüstern, um ein bebend langes Weilchen bis in die Spitzen seiner Mähne an das zu glauben, was da giftgrün oder blutrot aufgeschrieben steht.
    Genug gelesen!
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