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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit
Autoren: Georg Klein
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der Mohrenbräu AG gekauft. Die obsolet gewordenen Produktionsanlagen, die alten Kupferkessel und ihre Ziegelgehäuse, wurden restlos abgerissen, um Platz zu schaffen für ein kleines Hochhaus und für die Erweiterung der Kreuzung, die seitdem rundum mit Ampeln und Abbiegspuren protzt. Die Mutter will mit dem Rad zu ihrer eigenen Mutter, die, so behauptet es der Traum, noch nicht wie in der Wachhistorie gestorben ist, sondern auf der anderen Seite der Stadt in einem blendend weißen Wohnblock wohnt. Die Ampel springt auf Rot. Die Mutter hält an, wie es sich gehört, obwohl im Augenblick weit und breit kein Auto zu sehen ist. Das Stehenbleiben ist ihr mehr als recht. Sie weiß, wie ewig lang es dauert, bis wieder Grün aufleuchtet. Während das Rot herrscht, soll vor ihrem Rad ein ungeheurer Verkehr von Süd nach Nord und von Norden nach Süden strömen. Deshalb holt sie ihr Buch heraus. Eine honigfarben vergilbte Feldpostkarte steckt dort, wo sie am Abend zuvor, als ihr in selten süßer Müdigkeit die Lider zugesunken waren, mit dem Lesen innehalten musste. Die Ampel leuchtet rot. Das Rot bleibt rot. Sie liest und liest und liest. Sie liest so gut, dass sie nicht sieht, wie die Ampel schließlich doch die Farbe wechselt. Sie liest so gut, dass sie den Bus nicht hört, der von hinten aus der Neuen Siedlung naht, den großen Gelenkbus, auf dessen Spur sie und ihr Fahrrad stehen. Sie hört nicht, wie der Fahrer, das Grün der Ampel im Blick, zu spät die Hupe tuten und dieBremsen kreischen lässt. In diesem, ihrem schönsten Traum liest sie so trefflich gut, dass sie die Reifen keinen Moment lang quietschen hören muss – den mohrenschwarzen Gummi der gewaltigen Räder, die dort, wo das Bären-Bräu gestanden hat, auf dem Granit des alten Kopfsteinpflasters ins Rutschen kommen und dann auf den Teer der Kreuzung hinüberschrubben.
    Als sie vorhin den zweiten Fehler machte, als sich etwas in ihr dazu verstieg, das angehobene Sofa auch noch ein Stück nach vorn zu zerren, gab es unüberhörbar ein Geräusch. In blitzartiger Abwehr versuchte sie zu glauben, das Ritschen wäre aus dem Bauch der Couch gekommen. Lächerlich kurz erblühte die Illusion, dort im Möbel, zwischen den Heimatromanen ihres verschollenen großen Bruders, wäre irgendein Papier zerrissen oder eine Hülle aus Zellophan geplatzt. Umsonst. Das erste Innen ließ sich in diesem fatalen Fall nicht durch eine andere Inwendigkeit ersetzen. Dergleichen Schwindel hält allenfalls über den allerbesten Büchern vor, dergleichen wundertätiger Selbstbetrug gelingt uns bloß in glücklichem Einklang mit einem jener raren Schmöker, die wie unbesiegbare Piratenschiffe auf den Wellen, über den vielen auf den Meeresgrund gesunkenen Romanen, tanzen.
    Es ist vorbei. Es hat sich mit einem simplen Ritsch erledigt. Was jetzt noch kommt, ist bloßes Nachspiel. Die Mutter hört durch das offene Fenster die Stimme ihrer Nachbarin. Annabett Böhm klingt müde, wahrscheinlich hat sie auf der Suche nach dem bockigen Töchterchen erfolglos die halbe Siedlung abgeradelt, und nun ist alles, sogar ihre Sorge, bis auf den Grund erschöpft. Jetzt sagen ihr Vernunft und Müdigkeit: Sybille wird das lausige Gör schon irgendwann nach Hause schaffen. Dann hört unsere Mutter den Vater eineAntwort geben. Die beiden haben sich also getroffen und sind zusammen heim in den Hof gekommen. So ist es gut. Mit einem Ritsch ist alles abgeklärt. Mit einem Ratsch hat sich als richtig erwiesen, dass sie dem Gatten, der die Zeit des Krankgeschrieben-Seins so schlecht verträgt, kein Wort von dem verraten hat, was ihm neun Wochen lang, unter meinen Monden, im Juli und im August, klammgeheim ins Haus stand. Auch ihre Söhne hätte sie besser nicht mit dem bedrängen sollen, was nun nicht kommen darf. Wahrscheinlich wird der Vater gleich das Fahrrad in den Keller tragen. Die Mutter stakst, so schnell es ihr die wackeligen Knie erlauben, hinüber ins Bad. Schon ist die Tür verriegelt.
    Dadrinnen hinter der weißen, vom Vater seit dem Einzug erst einmal nachlackierten Tür bleibt uns noch eine Riesenmenge Zeit. Der Vater wird ein langes Weilchen im Unterleib des Blockes bleiben. Nachdem er das Fahrrad im Gemeinschaftskeller neben seinem Moped abgestellt hat, schließt er die Tür des Gangs auf, der zum Kellerabteil der Familie führt. Er macht es extra leise, er zieht die Klinke stramm heran, damit das schwergängige Schloss nicht kracht. Selbst Schritte kann man nach oben hören, falls dort das
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