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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit
Autoren: Georg Klein
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der Georgenstraße hatte sich die Mutter zur Verblüffung des Verkäufers tief vor die Rückseite des Sofas gebeugt und ihn mit der Frage nach dem Namen des schwarzen Stoffes gehörig in Verlegenheit gebracht.
    Die Kugel wird rollen. Schon holt der rechte Arm des Roten weit nach hinten aus. Jedes der Kinder hat auf seine putzig schmucke, auf seine einsam stolze Weise so endgültig, wie allein wir Kleinen es vermögen, mit dem Leben abgeschlossen, denn jede und jeder hat für sich mitangesehen, dass der Speer des Älteren Bruders nicht weit genug geflogenist. Auch das Medaillon aus dem Holzbein von Kapitän Silber, das Bildnis der verschollenen Nichte, hat ihm leider nicht zu einem besseren Flug verhelfen können. Der Rote da vorn ist zweifellos ein grandioser Kegler und wird sie allesamt in Stücke schmeißen. Unser großer Bruder ballt die rechte Hand um die Lakritz-Pfeife, die ihm der Fehlharmoniker im Bäckerladen nicht bloß geschenkt, wie die anderen meinten, sondern von Gleich zu Gleich verehrt hat, als wären just sie beide, der Schieftöner und er, irgendwie von derselben Art. Sybille zischt dem Kegler ein letztes «Dubu blöbödeber Blubutkeberl!» zu. Und mein dreifach von mir geprüfter Schniefer streckt den Arm zur Seite, um sich die fiebrige Pfote von Sybilles kleiner Schwester zu grabschen. Der ungebissene Zwilling schüttelt das Tablettendöschen, das sie dem Toten abgenommen haben, wie eine Rassel. Er ganz allein hofft immer noch. Er hofft, dass sich mit diesem hohlen Klappern das Schlimmste noch verhüten oder zumindest in eine andere Welt verschieben ließe. Das geht natürlich nicht. Leider darf das nicht klappen. Aber die anderen haben seinen Rhythmus aufgenommen. Alle heben im selben Takt die Sohlen und stampfen auf der Stelle, stampfen in einem festen, ohnmächtig schönen Trotz gegen den roten Kegler an. Sogar die nackten Füße von Sybilles kleiner Schwester tapsen mit. Fast klingt es wie Musik. Und mein gebissenes Brüderchen, dem jetzt, auf dem Kipppunkt der Gefahr, das tätowierte Gelenk juckt wie noch nie, dreht sich zu mir, um mich für einen Märchenblick als seine Schwester zu erkennen.
    Erneuter Sommer! Erneut stehe ich zwischen den beiden wie mitten in einem Witz. Verlegen senke ich den Blick. Neun Wochen reichen halt nicht aus, um eine Schönheit aus Fleischund Blut und Haut zurechtzubacken. Ich bin nicht Fisch, ich bin nicht Frosch. Zur Kaulquappe fehlt mir der Schwanz. Ich bin ein bucklig Würmchen. Ich habe keine Nase und bloß ein gespitztes Löchlein als Mund zu bieten. Die Augen stehen mir, komisch schräg, seitlich am Kopf. Niemand, kein lieber Gott, zieht mir die Stummelglieder lang. So tue ich notgedrungen selber, was ich kann. Ich nehme mich noch einmal riesig wichtig. Ich blähe mich, nicht anders als der böse arme Blutkerl, mächtig auf, um jetzt, bevor ein Kegel fällt, wenigstens von einem der beiden brüderlichen Lockenköpfchen gründlich bemerkt zu werden. Der wachgebissene Zwilling sieht mich und sieht in mich hinein. Das überhelle Licht der Kegelbahn reicht aus, um meinen weißen Zottelpelz, die unreif kuttelige Hülle und alles, was ich bereits in Keimen gleich winzigen Gestirnen in mir trage, zu durchdringen. Als ein nervöser roter Punkt schlägt mir ein menschlich Herz. Mich soll es also wieder treffen. Die Kugel rollt. Sie hat mich schon so gut wie umgeschmissen. Sie schmeißt mich aus der Welt. Nur mich. Ich bleibe erneut als Einzige auf dieser Strecke. Sogar Sybilles kleiner Schwester wird ihr hitziges Hirn ohne großen Schaden wieder auf die üblichen Grade Celsius herunterkühlen. Ihre vollständige Genesung wird genauso lange dauern, wie es braucht, bis dem auf spätere Wirklichkeit geeichten, dem bald schon kurzsichtig gewordenen Zwilling das Handgelenk verheilt ist. Schon gut! Schon gut! Ich mag nicht meckern. Ich weiß, ich bin das beste Opfer, allein schon, weil ich als ein noch jedem missgünstigen Blick entzogenes Nichtchen keinem zum Sündenböcklein, zum Maultier seiner Schuld und seiner Ängste tauge.
    Die Mutter träumt. Die Mutter hat sich einfach auf die schiefstehende Couch gelegt. Sie träumt mit offenen Augenvon ihrem schönsten Tod. Sie träumt, sie führe mit dem Fahrrad auf die große, auf die größte Kreuzung unten in Oberhausen zu. Es ist die Ecke, an der noch bis zum Krieg, den ganzen Krieg lang und noch ein Weilchen über den letzten Krieg hinaus die Gebäude der alten Bären-Brauerei zu finden waren. Irgendwann wurde alles von
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