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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit
Autoren: Georg Klein
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nicht mildern.
    Ach, unser großer Bruder weiß, dass er kein guter, sondern im Gegenteil ein ausgesprochen miserabler Werfer ist. Von denen, die als Freunde und Geschwister nun eine rettende Tat erwarten, verfügte allenfalls der Wolfskopf über genügend Kraft, die angespitzte Krücke über die Kegelbahn hinweg auf den roten Kerl, auf dessen strammen Rumpf, auf dessen Wabbelhaupt zu schleudern. Der Ältere Bruder sieht den Wolfskopf an: Die Mähne steht ihm so starr vom Kopf, als wäre ihm das Entsetzen, das seine Glieder lähmt, wie einbesonderes Blut, wie ein Angstsaft in jedes aschblonde Haar geschossen. Der Ältere Bruder wendet den Kopf zur anderen Seite: Die Schicke Sybille hat das Gesicht gesenkt, mit beiden Zeigefingern malt sie auf ihrem Kleid, sie zieht die Umrisse der Drachen nach, die dort ihren orangen Feueratem noch ein wenig weiter als bislang aus den Schnauzen stoßen und ihre Alligatorenaugen bis zum Anschlag aufgerissen haben. Man könnte glauben, das geflügelte und geschuppte Gewürm sei hochaufmerksam dabei, mit Neugier und einem eigenen Interesse an der Sache. Da hört er seine Brüder flüstern. Von hinten, wo sie, weit auseinander, als letzte Reihe stehen, wispern die Zwillinge. Sie flüstern im Duett, wie sie noch nie geflüstert haben und nirgendwo mehr flüstern werden. Es ist kein Witz. Sie hauchen seinen Namen, und er versteht dazu: «Wir müssen näher – und du noch ein paar Schritte weiter! – an den Bösen ran!»
    Der Blutkerl aber zählt die Kegel. Er zählt erneut von eins bis drei. Vorn sind es wieder die drei Großen. Er zählt die zweite Reihe, vier, fünf, sechs. Die Fünf ist wiederum ein Mädchen mit verschwitztem Schopf und heißem Hirn. Er zählt die letzte Reihe, rechts außen steht die Sieben, links außen die fast spiegelgleiche Acht. Und in der Mitte, in der Lücke zwischen den Zwillingsbuben, steht die Neun. Schon gut, schon gut! Ich weiß. Ich bin’s. Ich stehe fest, ich steh, so stramm ich kann. Und doch, ein Klageruf sei mir erlaubt: Herrjemine, erneut bin ich die Neun! Wieder muss ich, die Jüngste, ganz hinten in der Mitte zwischen dem ungebissenen und dem gebissenen Bruder stehen. Ich mag nicht weiter drüber jammern. Es kann im Rahmen diesseitiger Möglichkeiten, es kann hier, in der Kind- und Kegelbahn des Bärenkellers, für ein Würmlein wie mich leider kein besseresPlätzchen geben. Der Blutkerl sieht die schwarze Kugel. Sie wartet am weißen Strich, dort, wo der Anlauf endet, den jeder Werfer nehmen darf. Der Blutkerl tappt hin, Gummi grabscht Gummi. Rot legt zehn Würstchenfinger auf das kugelrunde Schwarz des heimatvertriebenen Gymnastikballs. Gleich wird gekegelt werden. Gott steh uns Kindern, Gott stehe allen Kindchen bei!
    Achtlos lässt unser großer Bruder die linke, die stumpfe Krücke fallen. Obwohl sie nun gemeinsam, dem Rat der Zwillinge folgend, ein paar zaghafte Schritte auf den Gegner zugetippelt sind und auch der blutig rote Kerl zwei, drei feste Tapser in ihre Richtung machte, muss unser Bruder, muss ausgerechnet unser Fußverletzter, nun einen richtigen, einen elend einsamen, einen jämmerlich schmerzensreichen Anlauf nehmen, um seinen Speer zu schleudern. Die anderen, auch ich, wir sehen seinen dünnen Arm, sein Bubenärmchen nach hinten schwingen. Es geht nicht anders: Wie immer, wie bei jedem Einsatz in der langen Historie dieser Waffe, muss der Rückraum, das Durchschrittene, die Wucht für das, was kommen soll, bereitstellen. Der große Bruder wirft den Speer, er wirft die viel zu schwere Lanze.
    Wozu noch Zeit verlieren? Der Mann ohne Gesicht beschließt hineinzugehen. Und kaum dass Sputnik, die sich in ihr Geschirr stemmt wie nie zuvor, auch den Fehlharmoniker über die Schwelle gezogen hat, klappert Metall auf Holz. Es klackert laut, erschreckend laut, aber auch lächerlich laut im Rücken der beiden Panzerfahrer. Herumgeschnellt, sieht der Mann ohne Gesicht die Krücke mit einem letzten Schaukeln zur Ruhe kommen. Natürlich erkennt er, was er zweimal, zuerst mit der groben, dann mit der feinen Feile, in Arbeit hatte. Es ist, als sei der notdürftige Speer vom anderen Ende derBahn, von den hölzernen Kegeln, zu ihnen hergeflogen. Da haben sie das Ding, das sie jetzt brauchen! Der Ladeschütze greift sich das krankenhausweiß lackierte Geschoss und legt es dem Richtschützen, ohne dass noch Worte nötig wären, mittig in die rechte Hand. Jetzt soll es ein letztes Mal so gehen, wie es bis zuletzt, bis zum letzten verlorenen
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