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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit
Autoren: Georg Klein
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und seinem genesenen Töchterchen bleibt aus meinem goldenen August nichts weiter übrig als eine ziemlich große, für alle Zukunft von keinem Zollstock und keiner Stoppuhr ausmessbare Gedächtnislücke.
    Der brave Wolfskopf überlegt, ob er der Gesuchten und nun von ganz allein Gekommenen die Schuhe überreichen soll. Aber die Sandale, die im Bauch des Gasherds war, ist so gründlich verbogen, dass man wohl nie wieder mit ihr laufen kann. Der gebissene Zwilling tritt einen Schritt zur Seite, damit Sybilles kleine Schwester sich an ihren Platz, also in die zweite Reihe zwischen den Schniefer und den Ami-Michi, hinstellen kann. Der Kerl, der im Bären verborgen war, hat mittlerweile beide Arme frei und müht sich nun mit seinen plumpen, mit seinen würstchenhaft geschwollenen Fingern, den prallen Bauch und die fast weiblich runden Hüften aus dem Fell zu kriegen. Noch bleibt ein bisschen Zeit. Der Ältere Bruder steht vorne in der Mitte, so wie es sich gehört, und wundert sich über das Rot. Wo mag ein Mensch – es kann doch nur ein Mensch sein? – so rot, so indianerrot an Armen, Brust und Bauch geworden sein?
    Der Vater schiebt das Damenrad, das Fahrrad seiner Frau. Er weiß, dass es komisch, vielleicht sogar verfänglich aussehen muss, wie er und die schöne Nachbarin nun an den Spielplatzwiesen entlang nach Hause schlendern. Zum Glück ist hier am späten Nachmittag kein Mensch. Sie sind allein, denn die Kleine ist ihnen gleich wieder entwischt. Nur kurz hatte das kuriose Mädchen die Finger in die Bluse der Nachbarin gekrallt und sich den Stoff, die glänzende Viskose, so weit über die Ohren gezerrt, als wollte sie, die Stirn voran, unter der großen Brust noch einmal in den mütterlichen Leib hinein. Doch dann riss sie sich ebenso heftig wieder los. Die Hände Annabett Böhms streichelten ins Leere, die eben noch beruhigend Liebkoste sauste, wie von einer Wespe gestochen, fort Richtung Rosenhang. Erst als sie komisch hüpfend zwischen den Ranken und den Brennnesseln verschwand, hatte der Vater bemerkt, dass sie, was ihrer Mutter nicht recht sein konnte, den dornenreichen Abhang mit bloßen Füßen hinunterstürmte.
    Die Invaliden gehen an der Kegelbahn entlang. Der Mann ohne Gesicht versucht hineinzulugen. Aber die Scheiben der Fenster sind offenbar mit einer Malerbürste zugestrichen worden, und nirgends ist die weiße Schicht, durch die milchiges Licht nach draußen dringt, so dünn, dass sich nach innen blicken ließe. Sputnik zieht den Fehlharmoniker zur Tür. Der rüttelt vergeblich an der Klinke. Der Mann ohne Gesicht denkt an seinen gutgefüllten Werkzeugkasten und ärgert sich darüber, nicht einmal das Brecheisen oder einen großen Schraubenzieher mit hierher genommen zu haben. Da kracht das Schloss. Gerade als der Fehlharmoniker von der Klinke abgelassen hat, kommt aus dem Schlüsselloch ein hässlich grelles Pling, als wäre eine starke Feder oder etwasanderes aus Eisen oder Stahl gebrochen. Die Männer zögern. Doch Sputnik, das dienstbare Tier, das in meinem Sommer mehr denn zuvor und mehr als je danach Hündin sein darf, springt hoch und schlägt mit beiden Pfoten auf die Klinke.
    Die Tür geht auf. Die Tür schwingt handlang nach innen. Der Fehlharmoniker zieht Sputnik zurück, umfasst mit der Linken ihre Schnauze, damit sie sich und ihre beiden Männer nicht durch Bellen verrät. Der Mann ohne Gesicht drückt das Pergament seiner rechten Wange gegen den Türstock und spitzelt hinein. Er sieht das hell angestrahlte Ende, er sieht das Zielende der Kegelbahn. Die Kegel, die dort stehen, sind ungewöhnlich groß. Obwohl er in der Zeit, als er noch Nase, Augenbrauen und eine keck geschwungene Oberlippe sein Eigen nannte, nie selbst gekegelt hat, glaubt er dennoch zu wissen, wie die Kegel einer regulären Bahn auszusehen haben. Die hier, diese grau verstaubten, nicht vollständig stilisierten, sondern auf anrührend grobe Weise im Menschenähnlichen verharrenden Figuren sind ohne Zweifel allesamt zu groß. Die vorderen drei reichten ihm bestimmt bis an die Brust, und selbst die kleinsten, die in der dritten Reihe stehen, sind mindestens hüfthoch, während ein regelgerechter Kegel einem Erwachsenen doch höchstens bis ans Knie geht. Wieso wurden diese neun Kegel nicht gleich gemacht? An der linken der drei größten Figuren, die die erste Reihe bilden, hat der Holzbildhauer, wenn ihn nicht alles täuscht, in kruder Laune sogar kleine Brüste angedeutet.

Sommernacht
    Die Tür ist zu, der
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