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Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Titel: Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
Autoren: Zülfü Livaneli
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blitzschnell verbergen ließ, falls mein Großvater einmal unvermutet in der Küche auftauchen sollte. So vermuteten alle, mein Großvater sei tatsächlich ahnungslos, bis er eines Tages besonders hungrig war und ungeduldig rief: »Zülfü, ich weiß doch, dass die in der Küche saufen, die sollen sofort kommen!« Die paar Schluck Rakı, die die drei Männer sich heimlich gönnten, galten meinem Großvater bereits als »saufen«. Als ich in der Küche Bescheid sagte, brach unter den dreien Panik aus. Sie gossen den Rest aus ihren Gläsern weg, spülten sich hastig den Mund aus und setzten sich kleinlaut zu Tisch. Ihren Vater wagten sie nicht anzusehen.
    Eine weitere Eigenart meines Großvaters war, dass er die Radiosendungen zum Geburtstag des Propheten in andächtiger Stille hören wollte und nicht einmal ein Flüstern duldete. So waren wir jeweils alle um das Radio versammelt und lauschten den Kantoren, die ein Gedicht auf den Propheten vortrugen und sich dabei um möglichst hohe Töne bemühten, was uns Kinder oft genug zum Lachen reizte. Durch die angespannte Atmosphäre und die erzwungene Stille wurde dieser Reiz nur noch schlimmer, bis er in einen unbezähmbaren Lachanfall mündete. Daraufhin machten wir uns in unser Zimmer davon, wo wir uns vor Lachen schüttelten und jene hohen Töne nachzuahmen versuchten. Vom Großvater wurden wir dann tagelang mit vernichtenden Blicken gestraft.
    Nicht unerwähnt soll bleiben, wie unbeholfen mein Großvater gegenüber jeglicher Technologie war. Als meine Tochter Aylin in Istanbul eingeschult wurde, kaufte ich einen Kassettenrekorder aus Deutschland. Bei einem Familienbesuch in Ankara hielt ich allen das Mikrofon hin, und jeder richtete meiner in Istanbul verbliebenen Frau Ülker einen Gruß aus und wünschte Aylin viel Erfolg in der Schule. Mein Großvater saß währenddessen stumm da, mit Hausjacke, Käppchen und Gebetskette. Zuletzt ging ich zu ihm und forderte ihn auf, auch etwas zu sagen. Er nahm das Mikrofon in die Hand und führte es wie die anderen zum Mund. »Ülker!« rief er dann und wartete ein Weilchen. »Ülker!« Er wiederholte den Namen meiner Frau noch mehrmals. »Wie geht es dir?« Nach einer weiteren Pause warf er plötzlich Mikrofon und Rekorder auf den Boden. »Die antwortet ja nicht.« Bevor es die Zerstreuung durch das Fernsehen gab, mussten solche Fehlleistungen der älteren Generation als Amüsement herhalten und wurden über Jahre hinweg immer wieder aufgetischt.
    Vor dem Opferfest nahm mein Großvater mich jeweils auf den Viehmarkt mit und tastete dort so lange an ausgewachsenen Schafböcken herum, bis er seine Wahl getroffen hatte. Dann heuerte er einen Träger an, der sich das Tier auf den Rücken lud, und so ging es zu Fuß wieder nach Hause zurück. Beim Schlachten eines Opfertiers war ich allerdings nie dabei.
    Für Bigotterie hatte mein Großvater trotz seiner Frömmigkeit nichts übrig. Oft ging er im Zimmer herum und schimpfte auf unsichtbare Feinde: »Reaktionäres Pack!« Und beim Nachrichtenhören ereiferte er sich immer wieder über Oppositionsführer İsmet İnönü, was nicht selten zu Streit mit meiner Großmutter führte, einer glühenden Anhängerin von İnönüs Partei.
    Die Angewohnheit meines Großvaters, auf den Radioapparat einzuschimpfen, muss auf mich übergegangen sein, denn ich ertappe mich oft genug, wie ich vor dem Fernseher mit lügenden Politikern streite. Es hat sich nur die Marke geändert: Er schimpfte vor einem Philips-Radio, ich vor einem Sony-Fernseher.
    Erst vor kurzem, als mein Vater eine kleine Geschichte unserer Familie niederschrieb, sollte ich über meinen Großvater etwas erfahren, das mich regelrecht stolz auf ihn macht. Als mein Großvater nämlich 1915 Richter in Harput war, also in einer der Provinzen, aus denen besonders viele Armenier verschleppt wurden, versuchte er wie so mancher Muslim, aus Mitleid seinen armenischen Nachbarn zu helfen. Er heiratete ein junges armenisches Mädchen, um es vor Deportation und Tod zu erretten. Leider starb das Mädchen bald danach an einer Krankheit.
    Es gibt noch heute in Anatolien Tausende von armenischstämmigen Frauen, aber viele Türken wissen nichts über die wahre Identität ihrer Großmutter. Ein befreundeter Journalist berichtete mir einmal, seine in Erzurum lebende Großmutter habe auf dem Sterbebett alle Familienangehörigen zusammengerufen und ihnen gesagt, sie habe noch einen letzten Wunsch. Als sie sich nach diesem erkundigten, erklärte die alte Frau,
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