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Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Titel: Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
Autoren: Zülfü Livaneli
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Großvater, dessen beide Onkel in Elazığ führende Mitglieder eines Sufi-Ordens gewesen waren, ließ mich Gebete und Koransuren auswendig lernen. Meine Großmutter hielt nichts von dieser Praxis und fürchtete, ich würde dadurch überanstrengt, und so drehte sie zum Trotz das Radio an. Während also aus dem Apparat Zeki Müren ertönte, leierte ich laut arabische Gebetsformeln herunter. Wenn ich zu sehr auf das Radio lauschte, setzte mein Großvater den strengen Blick auf, der bei uns Kindern so gefürchtet war, und griff drohend zu einem Pantoffel. Ich lernte zu jener Zeit erstaunlich viele Gebete und religiöse Vorschriften. Dass ich als Sohn eines Staatsanwalts einen Korankurs und eine Privatschule besuchte und meine Familie Atatürk verehrte und dennoch ihre religiösen Pflichten nicht vernachlässigte, stellte für mich keinerlei Widerspruch dar. Da die Frauen in unserer Familie gemeinhin kein Kopftuch trugen, konnte ich auch lange nicht begreifen, was diese Kopfbedeckung mit Religiosität zu tun haben sollte. Meine 1900 geborene Großmutter trug fast nie eines, was sie aber nicht daran hinderte, mich an Ramadan-Abenden in die Frauenabteilung der Moschee mitzunehmen (wo sie dann allerdings ein Kopftuch umband). Meine Mutter trug ihr Haar grundsätzlich offen.
    Obwohl mein Großvater sich mehr und mehr dem Glauben zuwandte, kümmerte ihn nicht im Geringsten, wie es die Frauen seiner Familie mit ihrer Kopfbedeckung hielten. Deswegen erstaunte mich auch die türkische Kopftuchdebatte so, die in den neunziger Jahren ihren Höhepunkt erreichte. Wäre ich einer atheistischen Bürokratenfamilie entsprungen, hätte ich zur Not noch verstehen können, wenn Familien, in denen kein Kopftuch getragen wurde, mit dem Etikett »glaubenslose Republikelite« bedacht wurden. Aber was sollte das schon für eine »Elite« sein, die ihr Kind in den Korankurs schickte, es in die Moschee mitnahm, ihm zu Hause rigoros Religionslehre erteilte, gänzlich nach türkischer Tradition lebte und sogar nach Mekka pilgerte? Als in Amasya mein Bruder Ferhat auf die Welt kam, wurde ich mit der abgeschnittenen Nabelschnur zur Beyazıt-Moschee geschickt, wo ich diese in einer bestimmten Nische deponierte. Dass Ferhat dennoch nicht Imam, sondern Musiker wurde, ist wieder eine andere Geschichte.
    Mit dem Wort »Elite« wird auch ein gewisser Wohlstand in Verbindung gebracht, und das vertrug sich so gar nicht mit unserer Familie, die im Verlauf mehrerer Kriege ihr ganzes Vermögen eingebüßt hatte und nunmehr mit einem einzigen Gehalt einer ganzen Kinderhorde eine anständige Ausbildung angedeihen ließ, ohne sich je zu beklagen. Während der Kopftuch-und Religionsdebatten wurde oft so getan, als sei die Türkei zweigeteilt in jene »glaubenslose Republikelite« und die »unterdrückte Volksmasse, die ihre Religion nicht ausleben darf«. Ich konnte diese künstliche Zweiteilung nie akzeptieren und kann es auch jetzt nicht, denn dazu müsste ich verleugnen, was ich innerhalb meiner Familie und nicht nur dort erlebt habe. In meinen Jugendjahren gab es noch eine Grundlage, auf die sich das ganze türkische Volk verständigen konnte, und darin fand sowohl der Prophet Mohammed seinen Platz als auch Atatürk; Mohammed nämlich als spiritueller Anführer und Atatürk als »Retter des Vaterlands«. Darüber gab es gar keine Diskussion. Man warf sich nicht gegenseitig vor, »gläubig« oder »ungläubig« zu sein, denn auf ihre Weise waren alle gläubig. Erst später wurden solche Unterscheidungen getroffen, bis es so aussah, als sei die Türkei in Gläubige und Ungläubige gespalten.
    In Gegenwart meines Großvaters rauchten mein Vater und meine Onkel nicht und schlugen nicht einmal die Beine übereinander. Da mein Großvater keinen Alkohol anrührte, kam natürlich auch nicht in Frage, dass seine Söhne in seiner Anwesenheit etwas getrunken hätten. So kam es, dass meine Onkel als ausgewachsene Richter und mein Vater auf dem Höhepunkt seiner beruflichen Karriere zu diversen Schlichen greifen mussten, um doch zu ihrem Rakı zu kommen. Wenn in unserem Haus in Bahçelievler der Tisch gedeckt wurde, verschwanden die drei Brüder in der Küche, entnahmen einem Versteck ihre Rakıflasche, und nach einigen verstohlenen Schlucken setzten sie sich zurück ins Wohnzimmer zu meinem aufs Essen wartenden Großvater. Dieses Verhalten der drei Männer hatte etwas zugleich Komisches und Tragisches an sich. Ihr Versteck war so gewählt, dass die Flasche sich
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