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Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Titel: Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
Autoren: Zülfü Livaneli
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sie wolle Muslimin werden. Da sie doch Muslimin war, hielt man sie für geistig umnachtet, aber sie gestand, damals als junges armenisches Mädchen dem Massaker entkommen zu sein und daraufhin jahrzehntelang unter einem anderen Namen und einer neuen Religion gelebt zu haben, doch nun wolle sie offiziell zu dieser übertreten, um nach muslimischem Ritus beerdigt zu werden.
    Ich jedenfalls bin überglücklich darüber, dass mein Großvater damals nicht zu den Mördern gehörte, sondern zu den Menschen, die anderen das Leben retteten.

 
    I   ch dürfte als Kind durchaus Spielzeug gehabt haben, doch kann ich mich kaum daran erinnern. Sehr wohl aber weiß ich noch, dass ich als Grundschüler in Amasya gleich drei Kinderzeitschriften ins Haus bekam, die mir ungeheuer viel bedeuteten. Ich konnte stundenlang darin versinken und las mich oft regelrecht schwindlig. Dazu fieberte ich noch mit dem Comic-Helden Sadık Demir aus der Tageszeitung Yeni Sabah mit.
    Eines Tages bekam ich Robinson Crusoe geschenkt und konnte mich gar nicht sattlesen an den Abenteuern von Robinson und Freitag. Unter den Geschenken zu meiner Beschneidungsfeier fand ich neben Armbanduhren und Goldstücken drei Bücher vor; eines davon hatte ein gewisser Sait Faik geschrieben, von dem ich damals noch nichts gehört hatte. Jene Bücher mochten noch ein wenig zu hoch für mich gewesen sein, doch habe ich wohl schon auf den ersten Seiten, die ich von Sait Faik zu lesen versuchte, eine gewisse Ahnung von dessen herben Charme bekommen, für den ich den Autor heute so schätze.
    Als ich in Ankara auf der Mittelschule war, wurde ich erst recht von einer Bücherleidenschaft erfasst. Ich las, was mir nur in die Hände fiel, am liebsten aber amerikanische Schriftsteller wie Jack London, Erskine Caldwell oder John Steinbeck. Mein Zimmer tapezierte ich mit Bildern von Hemingway. Samstags ging ich in die Amerikanische Bibliothek und schnitt dort heimlich alles aus, was ich über Hemingway in den Zeitschriften fand. Daheim legte ich die Ausschnitte in einem Ordner ab. Auf meinem Schreibtisch stapelten sich englisch- und türkischsprachige Ausgaben von Hemingways Büchern. Ich las auch Zeile für Zeile sämtliche Biographien inklusive die von seinem Bruder Leicester. Hemingway vermittelte mir ein Gefühl von Freiheit. Das endlose Leben, das vor mir lag, gedachte ich so zu führen wie er. So normal wie die anderen wollte ich ganz bestimmt nicht leben, das stand für mich fest. Diese Passion verleitete mich zu verrückten Experimenten. Doch zunächst möchte ich von meinem heimlichen Büchertempel berichten.
    Meine Familie war zunächst ganz angetan, dass ich mich zu einem so eifrigen Leser entwickelte, doch als meine Leidenschaft überhandnahm, erweckte das Kummer. Ich kann mich sogar erinnern, dass meine Mutter einmal ein Buch von mir in Fetzen riss. Meine Schulleistungen ließen erheblich nach, und morgens kam ich nicht aus den Federn. Mein wahres Leben begann erst abends im Bett, mit einem Buch vor der Nase. Die meisten meiner Schulkameraden gingen ins Kaffeehaus und spielten dort Tavla, Karten oder Billard. Für mich war das alles nichts.
    Schließlich verbot mein Vater mir das nächtliche Lesen. Wenn alle schon im Bett waren, kontrollierte er, ob durch die Milchglasscheibe meiner Zimmertür noch Licht schien. War dies der Fall, riss er die Tür auf und befahl mir, augenblicklich zu schlafen, ansonsten schlich er sich wieder davon. Ein paar Nächte lang las ich also nicht und wälzte mich unruhig im Bett herum. Dann fand ich die Lösung. Ich legte auf dem Steinboden unter dem Bett eine Decke aus, ließ die Bettdecke ganz herabhängen und richtete mir so eine kleine Höhle ein, die durch eine Lampe wunderbar beleuchtet wurde. Ich überprüfte mehrfach, ob auch wirklich kein Licht nach außen drang. Dann legte ich mir dort unten Bücher zurecht, versorgte mich aus der Küche mit Obst, und bis zum Morgen war ich im Paradies. Meine Eltern kamen hin und wieder an der Tür vorbei und wähnten mich in tiefem Schlaf, von meiner fatalen Sucht geheilt.
    Aus dieser intensiven Leseperiode gingen nicht zuletzt ein paar Früchte hervor. Ich fertigte von Wem die Stunde schlägt eine Radiofassung an und lernte dabei eine Menge über das Verfassen von Dialogen. Für einen Wettbewerb der Zeitung Milliyet besuchte ich mehrere Besserungsanstalten und schrieb dann eine Art Essay mit dem Titel »Schuldige Kinder«. Wiederum von Hemingway beeinflusst, produzierte ich schließlich einen
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