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Rom kann sehr heiss sein

Titel: Rom kann sehr heiss sein
Autoren: Henning Bo tius
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sich eine schwarze Schellackscheibe. Der ganze Raum vermittelte derart perfekt die Atmosphäre einer kommunistischen Bar der Fünfzigerjahre, dass man sich unwillkürlich nach Spitzeln umsah.
    Einar bestellte zwei große Bier und zwei Wodka. »Gehen wir davon aus«, sagte er, »dass es eine Inflation von Menschenschicksalen auf diesem Planeten gibt. Die explosive Zunahme der Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten ist nicht nur der Grund für all die Umweltprobleme, die uns plagen. Inflation heißt immer auch Entwertung des einzelnen Geldstücks. Übertragen auf unsere Existenz, bewirkt die Bevölkerungsexplosion eine anteilige Entwertung des Daseins jedes einzelnen Individuums. Das private Glück wird ebenso verdünnt wie das private Unglück. Die Verringerung beider gegensätzlicher Extreme, ihre allmähliche Annäherung aneinander durch die Vermehrung der Menschheit, wird tendenziell dazu führen, dass sich Glück und Leid, Liebe und Hass immer mehr zum Einerlei eines mittleren Gemütszustandes verbinden, den alle mit allen teilen und den man früher mit Langeweile, Trübsinn, Mittelmaß der Empfindungen apostrophiert hätte.«
    »Du willst offensichtlich diskutieren wie die Helden in einem der großen russischen Romane«, sagte ich. »Ich würde mich eigentlich lieber dieser sanft-apathischen Atmosphäre hier überlassen.«
    Einar ließ sich jedoch nicht irritieren. »Übrigens«, fuhr er fort, »wird auch der manichäische Antagonismus Gesundheit – Krankheit mehr und mehr eingeebnet durch die Fortschritte der Medizin oder sollte man nicht besser sagen, der Überlebenstechnologien. Ein weiteres Beispiel ist die zunehmende Angleichung der Pole Kunst und Nichtkunst, Fiktion und Realität, die das 20. Jahrhundert prägt, seit die Dadaisten Collagen, objets trouvés, ästhetisch hoffähig gemacht haben. Es gibt meines Erachtens nur einen einzigen Dualismus, der durch die Bevölkerungsexplosion nicht Schaden genommen hat, sondern eher reiner und klarer denn je dasteht: der Gegensatz von Masse und Einsamkeit. Halbe Einsamkeit gibt es nicht. Da sind wir Manichäer in Reinkultur. Du kannst bekanntlich in der Menge umso einsamer sein, je größer sie ist.«
    »Aber die modernen Kommunikationstechnologien, Internet, Mobiltelefon, erzeugen die nicht so etwas wie eine Halbeinsamkeit, die uns alle verbindet?«
    Einar lachte auf. »Piet, sie produzieren in ihrer wirbelnden Mitte nichts anderes als ein nacktes, frierendes einsames Ich, das viel stärker die Momente des Eremitentums verkörpert als es je in den alten Zeiten der Wüstenväter möglich war. Die meisten Menschen halten sich für Rätsel. Sich selbst und anderen gegenüber. Was sie so bekümmert, so missgelaunt wirken lässt, ist die Tatsache, dass sie ahnen, dass sie längst gelöst sind. Sie werden als Rätsel geboren, sind eine Weile als Kinder Rätsel und werden dann im Erwachsenenalter gelöst. Schule, Elternhaus, Staat, Religion, alle beteiligen sich an diesem Vorgang. Nur ganz wenige verstehen es, Rätsel zu bleiben. Das sind die, unter deren Traurigkeit oder Verzweiflung eine eigenartige Fröhlichkeit hindurchschimmert, wie bei Glasmalerei, die man gegen das Licht hält. Alfredo ist so, und genauso jemand bist auch du. Deshalb mache ich mir auch überhaupt keine Sorgen um dich. Du bist und bleibst trotz all deiner schrecklichen Erfahrungen der letzten Zeit eine Frohnatur.«
    Wir tranken uns wie so häufig in letzter Zeit zu. Die Bedienung legte einen neuen Schlager auf, in dem eine Balalaika und ein russischer Bass die Liebe beschworen.
    »Weißt du, was ich glaube, Einar?« Ich hörte meine Stimme überlaut wie die eines Predigers in einer leeren Kirche, der seine Enttäuschung über mangelnden Kirchenbesuch übertönen möchte. »Ich glaube, dass wir wieder das Staunen lernen müssen. Das einfache Staunen, nicht das über Sensationen. Ich habe einmal in einem Buch einen seltsamen Dialog gelesen über einen Mann, der über einen zitternden Grashalm staunt. Der Mann ist bewegt. Wahrscheinlich zittert auch er, innerlich. Er ist nicht allein. Eine Frau ist bei ihm. Er liebt diese Frau, ohne zu wissen, was Liebe ist. Plötzlich beginnt es zu regnen. Es regnet, sagt der Mann. Ja, denken Sie nur, es regnet, sagt die Frau und geht. Jener Schriftsteller, übrigens ein Landsmann von dir, hat diese Szene geschrieben, wie ich vermute, um das einfache Staunen zu illustrieren. Er schreibt diesen unmöglichen Dialog, um dem Leser deutlich zu machen, dass eine bloße
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