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Rom kann sehr heiss sein

Titel: Rom kann sehr heiss sein
Autoren: Henning Bo tius
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nächsten Tag gegen Mittag statt. Ich hatte rasende Kopfschmerzen und einen brennenden Durst. Wir saßen hoch über der Stadt in einem Raum, dessen Fenster einen herrlichen Blick über Helsinki und die Schären erlaubten. Direkt über uns lag die Atelierbar, von der aus Kellner ständig Getränke brachten. Diese Bar bildete den obersten Stock eines Viersternehotels. Wir hatten sie für unseren Zweck zusammen mit dem Konferenzzimmer gemietet, vom Geld meines verstorbenen Vaters, wenn es stimmte, dass die Villa, die ich verkauft hatte, einst sein Eigentum gewesen war. Die Atelierbar war wegen ihrer Lage ungeheuer beliebt. Hier traf man sich, um den Sonnenuntergang zu bewundern, der um diese Jahreszeit schon am frühen Nachmittag stattfand.
    Jetzt saßen und standen hier überall Journalisten, Männer und Frauen. Die meisten rotgesichtig. Da Essen und Trinken umsonst war, waren viele gekommen. Sämtliche Zeitungen und Sender des Landes waren vertreten. Zigarettenqualm wogte über allen. Wir verteilten die Pressemappe mit den Fotos und den Unterlagen. Einar redete auf Finnisch, ebenso Matti Vaala, dessen religionsphilosophische Beiträge offenbar so formuliert waren, dass immer wieder Gelächter aufbrandete. Ich trug meine Meinung zu HUBRO in einem holprigen Englisch vor, das erst besser wurde, als ich ein kaltes Bier getrunken hatte. Seltsame Fragen wurden gestellt, aber auch solche von erstaunlicher Sachkenntnis. Neben ethischen ging es vor allem auch um medizinische Probleme beim therapeutischen und reproduktiven Klonen, um die Gefahr von Tumoren, von unkontrolliertem Wachstum, von klonbedingter unheilvoller Überproduktion von Dopamin im Gehirn, das zu epileptischen Bewegungen führt und dergleichen. Am meisten Eindruck machte mir der Auftritt eines kleinen, hässlichen Mannes, der mit kreischender Stimme ein Plädoyer für die Mängel hielt. »Ich will nicht, dass man mir meine krumme Nase nimmt. Ich will nicht, dass man meiner Frau ihren Hängebusen nimmt. Ich will nicht, dass man Menschen perfektioniert wie Autokarosserien. Ich glaube, wir brauchen alle unsere Macken, unsere Zipperlein. Sie sind es, die den Schönheitssinn wecken, die Gedichte hervorrufen, die kluge Gedanken machen, aus Verzweiflung und Wodka zusammengemixt. Der neue Mensch der Genforschung ist der größte Langweiler, der sich denken lässt. Die Models, die wir jeden Tag auf den Titelseiten der Illustrierten angaffen dürfen, sind in Wahrheit völlig unerotisch, das wissen wir alle. Es geht nichts über die Unvollkommenheit. Sie ist die Mutter des Schönen. Hier, seht ihr diese Warze an meinem Kinn? Hier schneide ich mich immer beim Rasieren. Ich sehe dabei aus dem Fenster und denke ›Scheiße, so ein Mist‹, und dann kommen andere Gedanken, die aus diesem Malheur einen Sieg machen. Ich denke an schöne Dinge, nur weil die Sache schlecht angefangen hat, ich denke an tolle Bilder, an Gedichte, an meinen nächsten Italienurlaub, mit anderen Worten, ich vergolde Pech, und so wird es vielleicht doch noch ein schöner Tag wegen meiner Warze. Ich will sie nicht weggeklont haben, ich will keine perfekte, warzenlose Welt.« Einige klatschten. Andere riefen freche Bemerkungen. Dann stürzte alles hinauf auf die Aussichtsplattform, denn die Sonne ging unter.
    Am nächsten Tag waren alle Zeitungen voll von Artikeln über HUBRO. Das finnische und das schwedische Fernsehen brachten ausführliche Beiträge, Interviews, Kommentare von Theologen, Politikern, Biologen, Medizinern. Die Lawine war ins Rollen gekommen. Einar erzählte mir, dass die finnische Polizei mit den Berner Kollegen sehr erfolgreich zusammenarbeite. Man habe unter anderem Franziska Galas Puppensammlung konfisziert. Die Italiener ließen sich offenbar mehr Zeit. Doch seien auch hier die ersten Recherchen im Gange. Falsini sei offenbar untergetaucht.
    Wir packten unsere Sachen und fuhren mit der Fähre in die Stadt. »Komm«, sagte Einar. »Gehen wir ins Café Moskau. Ein einzigartiges Lokal. Es gehört den Kaurismäkis, den legendären Filmemachern. Du wirst dich wohl fühlen dort.«
    »Du hast Recht. Ich kann nicht ohne Menschen sein«, sagte ich, »aber sie dürfen möglichst nicht vorkommen.«
    Wenig später saßen wir hinter einer nikotingelben Tüllgardine. An der Wand hingen die russische Fahne und ein Leninplakat. Die Bedienung war fett, blond und grell geschminkt. Auf der verspiegelten Bar eine Reihe finnischer und russischer Wodkaflaschen. Auf dem Plattenteller der Musiktruhe drehte
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