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Rom: Band 1

Rom: Band 1

Titel: Rom: Band 1
Autoren: Emil Zola
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begehrenswerten Venuskörper? Pierre war sich jetzt dessen klar bewußt, und in seine Bestürzung mischte sich etwas Befangenheit, denn diese schönen, maßlosen Körper, diese die leidenschaftliche Lebenslust verherrlichenden, nackten Figuren erhoben sich gegen den Traum, den er in seinem Buch geträumt hatte: den Traum von dem verjüngten Christentum, das der Welt den Frieden gab, von der Rückkehr zur Einfachheit, zur Reinheit der ersten Zeit.
    Plötzlich hörte er zu seiner Ueberraschung, daß Narcisse, ohne daß er wissen konnte, durch welchen Uebergang er darauf gekommen war, ihm Aufklärungen über das tägliche Leben Leos XIII. zu geben begann.
    »O, lieber Abbé, mit vierundachtzig Jahren ist er so thätig wie ein junger Mann, führt er ein Leben voller Willenskraft und Arbeit, wie weder Sie noch ich es leben möchten! ... Schon um sechs Uhr steht er auf, liest seine Messe in seiner Privatkapelle und trinkt zum Frühstück etwas Milch. Dann findet von acht Uhr bis Mittag ein ununterbrochenes Defilé von Kardinälen und Prälaten statt, alle Angelegenheiten der Kongregationen müssen ihm vor Augen kommen, und ich stehe Ihnen gut dafür, daß es keine zahlreicheren und verwickelteren geben kann. Zu Mittag finden zumeist die öffentlichen und gemeinsamen Audienzen statt. Um zwei Uhr dinirt er. Dann kommt die wohlverdiente Siesta oder der Spaziergang in den Gärten, was bis sechs Uhr dauert. Manchmal halten ihn dann die Privataudienzen eine oder zwei Stunden lang auf. Um neun Uhr ißt er zu Abend; aber er ißt so wenig, lebt von nichts, ißt immer allein an seinem kleinen Tisch ... Was denken Sie von der Etikette, die ihn zu dieser Einsamkeit verpflichtet? Stellen Sie sich vor, ein Mensch, der seit achtzehn Jahren nie einen Tischgenossen hatte, ewig in seiner Größe abgesondert ist! ... Und von zehn Uhr ab, nachdem er mit seinem Vertrauten den Rosenkranz gebetet hat, schließt er sich in seinem Zimmer ein. Aber wenn er sich auch niederlegt, so schläft er wenig; er wird häufig von Schlaflosigkeit heimgesucht, steht auf und ruft einen Sekretär, um ihm Notizen oder Briefe zu diktiren. Wenn ihn eine interessante Angelegenheit beschäftigt, so gibt er sich ihr ganz hin und denkt unaufhörlich an sie. Darin liegt sein Leben, sogar seine Gesundheit; er besitzt einen Geist, der fortwährend wach, bei der Arbeit ist, eine Kraft und eine Autorität, die das Bedürfnis haben, sich auszugeben ... Uebrigens wissen Sie ja, daß er lange Zeit mit großer Vorliebe die lateinische Poesie gepflegt hat. Ich glaube auch zu wissen, daß er in den Stunden des Kampfes eine gewisse Leidenschaft für die Journalistik hatte, so sehr, daß er die Artikel in den von ihm unterstützten Zeitungen inspirirte. Man sagt sogar, daß er manche diktirte, als seine liebsten Ideen auf dem Spiele standen.«
    Ein Schweigen entstand. Jeden Augenblick streckte Narcisse den Kopf vor und schaute die ungeheure, verlassene und feierliche Galleria dei Candelabri mit ihren unbeweglichen, geisterhaft weißen Marmorfiguren hinab, um zu sehen, ob das kleine Gefolge des Papstes nicht aus der Tapetengalerie hervortrete, um dann auf dem Wege in die Gärten an ihnen vorbei zu kommen.
    »Es ist Ihnen ja bekannt, daß man ihn auf einem Tragsessel hinabträgt,« fuhr er fort. »Er ist sehr schmal, damit er durch alle Thüren kann. Es ist eine ganze Reise, beinahe zwei Kilometer, durch alle die Loggien, die Stanzen Raffaels, die Gemälde und Skulpturengalerien, abgesehen von den zahlreichen Treppen, kurz, ein endloser Spaziergang, ehe man ihn unten in einer Allee niedersetzt, wo ihn eine zweispännige Kalesche erwartet ... Es ist heute abend sehr schön. Er wird sicherlich kommen, haben wir nur etwas Geduld.«
    Während Narcisse diese Einzelheiten mitteilte, sah Pierre, ebenfalls voll eifriger Erwartung, die ganze außerordentliche Geschichte vor sich aufleben. Da kamen zuerst die weltlichen und prunksüchtigen Päpste der Renaissance, die eifrig das Altertum wieder ins Leben riefen und den Traum hegten, den heiligen Stuhl in den kaiserlichen Purpur zu hüllen: Paul II., der prachtliebende Venetianer, der den Palazzo di Venezia gebaut hat, Sixtus IV., dem die Sixtinische Kapelle zu verdanken ist, Julius II. und Leo X., die Rom zu einer Stadt voll theatralischen Pompes, voll wunderbarer Feste, Turniere, Ballette, Jagden, Maskeraden und Gelagen machten. Das Papsttum hatte soeben unter der Erde, im Staube der Ruinen, den Olymp wiedergefunden, und wie berauscht von
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