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Rom: Band 1

Rom: Band 1

Titel: Rom: Band 1
Autoren: Emil Zola
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Pierres wuchs, denn er hatte etwas ganz anderes erwartet. Besonders aber ward er betroffen, als der Kutscher mit seiner Peitsche ihm triumphirend den Corso zeigte. Das war eine lange, schmale Straße, kaum so breit wie die Rue Saint-Honoré; die linke Seite lag im hellen Sonnenlicht, die rechte im schwarzen Schatten, und am Ende bildete die Piazza del Popolo etwas wie einen leuchtenden Stern. Das also war das Herz der Stadt, die berühmte Promenade, die Hauptader, der alles Blut von Rom zuströmte?
    Der Wagen fuhr bereits auf dem Corso Victor Emanuel, der die Fortsetzung der Via Nazionale bildet. Das sind die zwei Oeffnungen, die von einem Ende der alten Stadt zum andern, vom Bahnhof bis zur Engelsbrücke, geschnitten wurden. Links sah der runde Chor der Kirche Il Gesù in der Morgensonne ganz hellgelb aus. Dann, zwischen der Kirche und dem schwerfälligen Palazzo Altieri, den man nicht niederzureißen gewagt hatte, verengerte sich die Straße, und sie gerieten in einen feuchten, eisigen Schatten. Aber jenseits, auf dem Platze vor der Fassade der Kirche Il Gesù, schien wieder blendend und goldig die Sonne, während in der Ferne, im Hintergrunde der Via d'Aracoeli, die gleichfalls in Schatten getaucht war, die sonnenbeglänzten Palmen erschienen.
    »Da drüben ist das Kapitol,« sagte der Kutscher.
    Der Priester beugte sich lebhaft zum Wagen hinaus, aber er sah nichts als einen grünen Fleck am Ende eines finstern Ganges. Dieser plötzliche Wechsel von warmem Licht und kalten Schatten machte ihn frösteln. Vor dem Palazzo di Venezia, vor der Kirche Il Gesù war es ihm, als laste die ganze Nacht vergangener Tage eisig auf seinen Schultern, dann aber, auf jedem neuen Platz, bei jeder Erweiterung der neuen Straßen meinte er wieder ins Licht, in die heitere, milde Wärme des Lebens zurückzukehren. Die Strahlen der gelben Sonne fielen längs der Fassaden herab und durchschnitten scharf die bläulichen Schatten. Zwischen den Dächern waren Streifen des tiefblauen, ganz klaren Himmels sichtbar, und die Luft, die er einatmete, schien ihm einen besonderen, noch unbestimmten Geschmack zu haben, einen Fruchtgeschmack, der sein Reisefieber noch steigerte.
    Der Corso Victor Emanuel ist trotz seiner Unregelmäßigkeit eine sehr schöne, moderne Straße, und Pierre konnte sich in irgend eine andere große Stadt mit riesigen Mietskasernen versetzt denken. Als er jedoch bei der Cancellaria, dem Meisterwerk Bramantes, dem typischen Monument der römischen Renaissance, vorbei kam, wurde sein Erstaunen abermals wach, und er kehrte im Geist wieder zu den bereits gesehenen Palästen zurück, zu dieser kahlen, schwerfälligen und kolossalen Architektur, diesen ungeheuren Steinwürfeln, die Hospitälern oder Gefängnissen glichen. Nie hatte er sich die berühmten römischen Paläste so ohne alle Grazie und Phantasie, so ohne jede äußerliche Pracht vorgestellt. Das alles war entschieden sehr schön, und zuletzt würde er es gewiß verstehen, aber es gehörte längeres Nachdenken dazu.
    Plötzlich verließ der Wagen den belebten Korso Victor Emanuel und drang in gewundene Gassen ein, in denen er nur mühsam vorwärts gelangte. Nach der hellen Sonne und dem belebten Treiben der neuen Stadt kam die Ruhe, die Einsamkeit, die schlafende und kalte alte Stadt. Er erinnerte sich an die Pläne, die er studirt hatte, und sagte sich, daß er sich jetzt der Via Giulia nähere; aber seine fortwährend zunehmende Neugierde wurde nun so groß, daß er beinahe darunter litt. Er war ganz verzweifelt, weil er nicht gleich mehr sehen, mehr erfahren konnte. Sein Erstaunen, daß alles so ganz anders war, als er erwartet hatte, die Erschütterungen, die seine Einbildungskraft erlitt, steigerten noch den fieberhaften Zustand, in dem er sich seit seiner Abreise befand, und ließen in ihm den heftigen Wunsch entstehen, seine Neugierde unverzüglich zu befriedigen. Es war noch kaum neun Uhr, er hatte also den ganzen Vormittag vor sich, um sich im Palazzo Boccanera vorzustellen – warum sollte er sich nicht sofort an den klassischen Ort, auf die Höhe führen lassen, von wo man das gesamte, auf den sieben Hügeln lagernde Rom überblickte? Als dieser Gedanke einmal von ihm Besitz ergriffen hatte, beunruhigte er ihn so, daß er ihm zuletzt nachgeben mußte.
    Der Kutscher drehte sich nicht mehr um; Pierre erhob sich daher, um ihm die neue Adresse zuzurufen.
    »Nach S. Pietro in Montorio.«
    Der Mann war anfangs erstaunt und schien ihn nicht zu verstehen. Er deutete
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