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Ritus

Ritus

Titel: Ritus
Autoren: Markus Heitz
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immer waren die Tiere des Waldes wie gelähmt. Das Lärmen, Fauchen und Schießen hatte ihre Stimmen erstickt.
    Jean wusste nicht, ob der Werwolf zurückkehren würde, um sein Werk zu beenden. Der Wildhüter lud mit zitternden Fingern alle Waffen nach, wartete einige Momente, die ihm wie qualvolle Stunden erschienen. Als sich nichts rührte, wandte er sich besorgt seinem schwer verletzten Sohn zu. Er vernähte die schweren Blessuren an Antoines Armen mit grobem Garn und wickelte Stofftücher darum, die er hastig aus seinem Rock schnitt. Dann kümmerte er sich um Pierres Wunden. Beide Söhne erwachten nicht aus ihrer Ohnmacht. Vielleicht weigerte sich ihr Verstand so lange es ging, die Bestie noch einmal sehen zu müssen. Liebevoll streichelte Jean die Gesichter seiner Kinder und fragte sich, was er tun konnte außer abzuwarten.
    Lange Zeit verharrte er zwischen ihnen, die Waffen griffbereit um sich verteilt, und lauschte in die gespenstische Ruhe.
    Es blieb still.
    Erst als er den erlösenden Ruf einer Eule hörte, entspannte sich Jean allmählich. Er entzündete ein kleines Lagerfeuer, das die Nacht zwischen den Bäumen vertrieb. Dann wandte er sich zu der Stelle um, wo der Kadaver des ersten Werwolfs darauf wartete, untersucht zu werden.
    Jean erstarrte. In einem See aus Blut lag dort – der Torso eines Menschen! Der Schein des Feuers beleuchtete die klaffenden, feuchten Wundränder; Chastel sah das Weiß des Schädelrestes schimmern. Die Bestie war nach dem Tod aus ihm gefahren und hatte einen ausgemergelten Mann von gewiss sechzig Jahren zurückgelassen.
    Der Wildhüter schauderte. Es widerstrebte ihm, sich dem Leichnam zu nähern. Doch konnte er es wagen, ihn hier liegen zu lassen? Wer würde ihm glauben, dass dieser schwache, alte Mann zu Lebzeiten eine reißende Bestie gewesen war? Er nahm seinen Mut zusammen und schleifte den Toten zum Bach, übergab ihn dem dunklen Wasser und sah zu, wie ihn die Strömung davontrug. Irgendwo würde er angespült werden, weit weg vom Vivarais und noch weiter weg vom Gevaudan. Sollte er dort seinen Frieden finden.
    Er kehrte zu seinen bewusstlosen Söhnen zurück, hielt sein Jagdmesser in die Flammen, öffnete die Wundnähte und brannte Pierre und Antoine die Verletzungen mit der glühenden Schneide aus. Der Keim des Wolfs, oder was immer sie angefallen hatte, sollte in der Hitze vergehen.
    Niemand durfte von den wahren Geschehnissen dieses Nachmittags erfahren. Die Wunden seiner Söhne stammten von einem großen Wolf, das würde er DeBeaufort und allen anderen erzählen. Ein passendes Tier zu seiner Geschichte konnte er auf der Rückreise ins Gevaudan erlegen. Wichtig war nur eins: So schnell wie möglich diese verfluchte Gegend zu verlassen, in der eine Kreatur ihr Unwesen trieb, die offensichtlich aus der Hölle gesandt worden war. Die Vulkane des Vivarais mussten geradewegs ins Reich des Teufels führen.

II.
KAPITEL
    München, 1. November 2004, 23:23 Uhr
     
    Er beobachtete die Unbekannte aus dem Schatten einer monströsen, modernen Installation heraus. Wie es sich für alte Ölfässer gehörte, stanken sie. Kunst mit einer unangenehmen Begleiterscheinung.
    Sie stand vor dem düsteren Gemälde, den Kopf mit den langen, blonden Haaren etwas nach rechts geneigt. Ein langer, dunkelbrauner Mantel lag um ihre Schultern, der Saum eines schwarzen Rocks und Bikerstiefel schauten darunter hervor.
    Er war auf sie aufmerksam geworden, weil sie sich, im Gegensatz zu den hektischen Besuchern in der Galerie, nicht bewegte. Sie nahm sich die Zeit, das Gemälde wirken zu lassen: einsame Versunkenheit.
    Die Welt um sie herum befand sich auf Häppchen-Jagd, stieß Gläser aneinander, beglückwünschte den strahlenden Ausstellungsleiter zur gelungenen Vernissage und lud sich die Teller mit Canapés voll. Allenthalben Trunkenheit.
    In Zeitlupe richtete sie den Kopf auf, machte einen Schritt zurück und senkte den Schopf nach links. Sie verharrte, er verharrte, und beide betrachteten das Objekt ihres Interesses auf eigene Art.
    Schließlich hielt er den Gestank nach Öl nicht mehr aus; außerdem war ihm danach, die Jagd zu eröffnen. Er näherte sich ihr und gab sich Mühe, nicht leise zu sein, damit er sie keinesfalls erschreckte. Erschrockenes Wild flüchtete.
    Ihm fiel sofort auf, wie gut sie roch. Der Duft ihres Shampoos war dezent, Parfüm benutzte sie nicht, und so war es ihr eigener Geruch, der pur und unverfälscht in seine empfindliche Nase stieg.
    Endlich stand er neben ihr und tat
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