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Ritus

Ritus

Titel: Ritus
Autoren: Markus Heitz
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scheinheilig so, als interessiere er sich für das Kunstwerk und nicht für sie.
    Die Frau schaute ihn an und zeigte ihm so ihr schlankes Gesicht, in dem eine unmodisch modische Brille ihre kornblumenblauen Augen betonte. Sie trug eine dunkelrote, dünne Seidenbluse und nichts darunter; ihre Brüste zeichneten sich mit allen verlockenden Details unter dem Stoff ab. Sie war nicht mehr als dreiundzwanzig Jahre alt. Ein gutes Alter.
    Sie hatte sich schon wieder abgewandt, ihre kurze Musterung war negativ für ihn ausgefallen.
    »Schön, dass Sie keine Häppchen in sich hineinstopfen«, sprach er nach vorne, als redete er mit dem Bild. »Wenigstens eine, die sich die Ausstellung anschaut.«
    »Ich brauche meine gute Figur«, erwiderte sie offenkundig genervt, »sonst bekomme ich keine Freier mehr. Und fragen Sie mich jetzt bitte nicht, ob ich öfter hier bin. Ich wärme mich bloß auf. Meine Tuberkulose ist noch nicht ganz weg, und da ist das Scheißwetter draußen Gift für meine Lungen.« Sie hustete, nahm ein Tuch aus der Manteltasche, presste es gegen den Mund und hielt es ihm entgegen. Ein großer, roter Fleck.
    »Offene TB?« Er grinste. »Wissen Sie, nach dem ersten Satz hätte ich Ihnen die Prostituierte abgenommen. Aber danach haben Sie ein bisschen dick aufgetragen. Und der Fleck war schon vorher drin. Rotwein? Kirschsaft?«
    »Lassen Sie es mich etwas einfacher ausdrücken: Ich habe kein Interesse an einer Unterhaltung. Gehen Sie einfach Häppchen essen«, empfahl sie ihm kühl und stopfte das Tuch in die Manteltasche zurück.
    »Geht nicht. Ich brauche meine gute Figur, sonst bekomme ich keine Frauen mehr ab.«
    Die Blonde lachte, drehte sich nun doch zu ihm und musterte ihn ausführlicher. Seine selbstsichere Bemerkung hatte sie neugierig gemacht. Er wusste, was sie sah: einen Mann Ende zwanzig, groß und durchtrainiert, mit schwarzen Haaren, die bis auf die Schultern reichten. Er trug schwarze Lederhosen, ein schwarzes Feinrippunterhemd und einen langen, weißen Lackledermantel; die Füße steckten in weißen Schnürstiefeln, an den Spitzen saßen Metallkappen. Trotz seiner Rasur vor vier Stunden standen ihm schon wieder erste Stoppeln im Gesicht, sein Kinnbart und die Koteletten lenkten jedoch davon ab und unterstrichen sein markantes, männliches Gesicht. Er rückte seine Brille zurecht, lächelte sie an und fragte: »Kurzsichtig oder weitsichtig?«
    »Ich oder Sie?«
    »Sie.«
    »Kurzsichtig. Eins Komma vier und eins Komma neun Dioptrien, plus Hornhautverkrümmung. Können Sie das toppen?«
    »Kurzsichtig, zwei Komma eins und zwei Komma drei Dioptrien. Aber keine Hornhautverkrümmung.« Bedauernd verzog er das Gesicht. »Dafür bin ich leicht farbenblind.«
    »Sie Ärmster. Dann haben Sie gar nichts von meiner schreiend gelben Bluse, meinem blauen Mantel und dem grünen Rock.«
    »Ich bin leicht farbenblind, nicht total farbenblöd.«
    Jetzt lachte sie schallend. »Sie haben mir tatsächlich meine schlechte Laune verdorben. Dabei hat mich das Bild gerade so herrlich depressiv gemacht.« Sie hielt ihm ihre gepflegte, weiche Hand hin. »Ich bin Severina.«
    »Ihr Künstlername, nehme ich an?« Er ergriff ihre Hand und schüttelte sie. »Eric.«
    »Ich bin keine Künstlerin.«
    »Ich meinte als Prostituierte.«
    Severina zwinkerte fröhlich. »Wir sind alle Huren, Eric. Jeder, der einen Job macht und Geld dafür bekommt, ist eine Hure.«
    »Welchen Beruf haben Sie?«
    »Keinen richtigen. Ich studiere Moderne Kunst und habe eine Hiwi-Stelle.« Sie ließ seine Hand los und deutete auf das Bild, das viel Schwarz, einige weiße und einen roten Streifen zeigte, die in wildem Muster vor dem dunklen Hintergrund lagen. »Schon erschütternd, was die modernen Künstler mitunter auf die Leinwand bringen.«
    »Wirklich?« Eric nickte und ging dicht an das Bild heran. Prüfend legte er die Hand darauf. »Um genau zu sein, das ist keine Leinwand.« Er pochte dagegen, das Material gab nach und wogte. Die ersten Gäste schauten zu ihm herüber und tuschelten; der Ausstellungsleiter wurde auf den Störenfried aufmerksam gemacht und erbleichte. »Sieht aus wie Plastikplane.«
    Severina beobachtete ihn neugierig.
    »Wollen Sie sich als Bilderstürmerin der Moderne versuchen?«
    Seine hellbraunen, fast schon bernsteinfarbenen Augen mit dem schwarzen Ring fixierten sie. Severina schien es, als habe der dunkle Rand der Iris Mühe, das wilde Gelb in Schach zu halten. Sobald es eine Lücke fand, würde es das Augenweiß
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