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Ritus

Ritus

Titel: Ritus
Autoren: Markus Heitz
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Antwort auf Pierres Frage. Er drehte sich grinsend zu seinem Vater um. »Wir haben einen leibhaftigen Werwolf gefangen!«
    »Aber ich dachte, es gibt sie nur in Geschichten.« Pierre nahm den Dreispitz vom Kopf, wischte sich den Schweiß von der Stirn und setzte den Hut wieder auf die kurzen schwarzen Haare; dabei fiel sein Blick auf den dicken Ast, über den die Kette lief. Die Rinde und das Holz darunter waren regelrecht abgehobelt worden. »Er hat lange gekämpft«, sagte er und machte die anderen auf die Scheuermale aufmerksam. »Ich danke Gott, dass wir der Bestie nicht bei der Jagd gegenüberstanden. Sie wird mehr als eine Kugel vertragen. Die Zähne …« Er schüttelte sich.
    Jean entdeckte tatsächlich vier verheilte Einschusslöcher am Leib der Bestie. »Du hast Recht. Das erklärt, weshalb DeBeauforts Treffer keine Wirkung zeigten. Ein gewöhnlicher Wolf wäre nach einem Schuss schon tot gewesen.« Jean hatte sich bereits gewundert, weshalb ihn sein in der Jagd erfahrener Freund um Beistand bat. »Ich hielt seinen Bericht zuerst für eine Übertreibung.«
    Antoine ging zum Stamm der Buche und machte sich daran, die Bolzen zu lösen, mit denen die Fangkette gesichert war, um das Wesen zur Erde zu lassen. »Sie werden uns feiern wie Helden«, freute er sich. »Wir können eine stattliche Belohnung fordern. Wenn wir das Biest in seine Einzelteile zerlegen und verkaufen, machen wir ein kleines Vermögen.«
    »Die Mädchen werden dich anhimmeln, das meinst du doch.« Pierre spie aus. »Ich habe gesehen, dass du wieder einmal deine Finger nicht von einer Kleinen lassen konntest. Du hast sie auf deinem Schoß reiten lassen.«
    Sein jüngerer Bruder hielt inne und schaute rasch zum Vater, dessen Miene sich verfinsterte. »Nein, ich habe nichts getan!«, wehrte er ab. »Pierre hasst mich, das weißt du, Vater. Er will mich bei dir …«
    Jean kam auf ihn zu. »Pierre lügt nicht.« Er baute sich vor ihm auf. »Im Gegensatz zu dir. Was hast du dieses Mal getan? Wie alt war sie?«
    »Sechzehn«, erwiderte Antoine und wollte sich der Kette widmen, aber sein Vater packte ihn bei der Schulter und drehte ihn mit Gewalt herum, so dass er ihm ins Gesicht blickte. Die grünen Augen hielten dem wütenden Braun nicht lange stand. »Zwölf«, brach es gequält aus ihm heraus, und er senkte den Kopf. »Vater, ich kann nichts dafür! Es ist …«
    »Schwein!« Jean schlug ihm die Faust gegen die Lippen, Antoine verlor den Dreispitz und prallte mit dem Rücken gegen den Kadaver der Bestie, der daraufhin wie eine Marionette grotesk zu zappeln und zu tanzen begann; die Kette klirrte und spielte die Melodie dazu. »Ich habe es dir bereits zu oft gesagt: Lass die Kinder in Ruhe«, warnte er ihn mühsam beherrscht. »Kauf dir so viele Huren wie du möchtest, aber fass die Unschuldigen nicht an! Wenn sie dich festnehmen, werde ich dich nicht schützen.« Abrupt drehte er sich um. »Und jetzt lass das Vieh runter, ehe die Maden es auffressen.«
    Antoine fuhr sich mit dem Rockaufschlag über den geschundenen Mund, wischte das Blut von den aufgeplatzten Lippen und stierte seinen Bruder an. Lautlos formte er das Wort Verräter. Er griff nach seinem Hut, stülpte ihn auf die langen, ungepflegten schwarzen Haare und lockerte die Bolzen so weit, bis sich die Kette abwickelte.
    Der Körper des seltsamen Tiers prallte unsanft auf den Boden, die Mücken stoben in Schwärmen davon, umkreisten den übel riechenden Schafköder aber bald wieder in kleinen, schwarzen Wolken. Larven krochen über das Fleisch, bohrten sich ihren Weg hinein und verzehrten es langsam, aber beständig.
    Die Chastels betrachteten den Loup-Garou schweigend. Der nüchterne Verstand von Jean und Pierre fand sich mehr und mehr damit ab, dass es dieses Wesen wirklich gab. Antoine hatte seine Existenz bereits mit dem ersten Blick hingenommen. Nun hob er den Kopf und lauschte in den Wald. »Surtout!«, rief er nach seinem Jagdhund, einem großen muskulösen Mastiff, der ihn überall hin begleitete. »Wo ist dieser Bastard?«, murmelte er und starrte ins dichte Unterholz. »Surtout!«
    Jeans Entsetzen schwand endgültig und wich der Neugier des Wildhüters, der eine neue Spezies entdeckt hatte. Er zog die Augenbrauen zusammen, kniete sich neben den Rücken des Tieres und strich mit den Fingern über das dichte Fell. Sein weißer Haarzopf rutschte nach vorne. »Das Vieh ist dürr. Es muss lange nichts mehr zu fressen bekommen haben.«
    Pierre stand einen Schritt weit entfernt und
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