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Ritus

Ritus

Titel: Ritus
Autoren: Markus Heitz
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hatte die Muskete locker auf das Tier angelegt. »Gib Acht, Vater.«
    »Traust du dem Frieden nicht?« Antoine näherte sich ihm, seine Haltung drückte Verachtung gegenüber dem Bruder aus. »Hasenfuß! Der Loup-Garou ist tot.« Er trat dem Tier in die Flanke. »Verhungert oder erstickt.«
    Plötzlich knackte es im Gebüsch. Pierre wirbelte herum, der Lauf zeigte auf das dichte Unterholz.
    Antoine griente abfällig. »Hat der Verräter Angst? Keine Sorge, Surtout tut dir nichts. Der frisst nur kleine Kinder.« Er nahm seine Muskete und pirschte auf das Unterholz zu. »Mal sehen, was er aufgestöbert hat. Vielleicht eine junge Magd, die sich am Bach waschen will?«
    »Komm zurück«, verlangte Pierre, doch sein Bruder war nach wenigen Schritten mit dem dunklen Grün verschmolzen. Lediglich das leiser werdende Rascheln der Zweige zeigte, wo er sich befand.
    »Was sechs Jahre Altersunterschied ausmachen«, murmelte Jean kopfschüttelnd und vermied es, sich einmal mehr Sorgen um seinen Jüngeren zu machen, den er nur mit auf die Jagd nahm, weil er ein begnadeter Schütze war. Antoine hauste ansonsten mit seinen Hunden wie ein Wilder im Wald von Ténazeyre. Was ihm an Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit fehlte, hatte Pierre zweifach erhalten, der bereits einen guten Ruf als Wildhüter besaß.
    Doch nun gab es Wichtigeres als Antoines Tollheiten. Jeans Wissensdurst war noch lange nicht gestillt. Seine Aufgabe als Wildhüter brachte es mit sich, dass er sich mit Tieren auskannte. Nun wollte er dieses unbekannte Exemplar genauer betrachten und seine Geheimnisse enthüllen, ehe es von Gelehrten in Beschlag genommen würde. Er berührte die Pranken des Biestes, drückte eine davon auseinander und rief Pierre voller Erstaunen zu sich. Er wies auf die gespreizte Pfote. »Komm her und lerne. Was fällt dir auf?«
    Pierre näherte sich nur widerstrebend. »Die Maden kriechen nicht in sein verfluchtes Fleisch?«
    »Das meine ich nicht. Sieh genauer hin.«
    Pierre stemmte den Musketenkolben als Stütze auf den Boden und ging neben seinem Vater in die Hocke. Mit ihm an der Seite fühlte er sich sicher. »Mein Gott, es hat Krallen wie eine Katze!«, entfuhr es ihm aufgeregt.
    Jean warf den Zopf zurück auf den Rücken und erhob sich, Pierre tat es ihm nach. »Wir müssen DeBeaufort benachrichtigen. Das hier ist ein Fall für die Behörden. Der König muss davon erfahren.« Er holte tief Luft. »Antoine, schaff dich und deinen Köter her! Wir wollen aufbrechen.«
    Als sich sein Sohn nicht blicken ließ, rief er noch einmal nach ihm. Und noch einmal.
    Sie lauschten aufmerksam, doch hörten nicht das geringste Geräusch. Dann raschelte es; leise Schritte bewegten sich auf sie zu.
    »Antoine, hör auf mit deinen Scherzen«, versuchte es Pierre. »Es wird dunkel, und unser Weg nach Langogne ist nicht einfach. Ich …« Er verstummte, weil sein Vater die Hand gehoben hatte.
    Wieder horchten sie in den schweigenden Wald hinein, während die Sonne nur noch hier und da durch die Baumkronen schien. Die Schatten wurden düsterer, bedrohlicher. Das Summen der Mücken war das einzige Geräusch.
    »Was ist, Vater?«, wisperte Pierre und hielt die Muskete so, dass er sie jederzeit abfeuern konnte.
    Jean zog langsam zuerst den rechten, dann den linken Hahn seiner Waffe zurück. Leise klackend arretierten sie. »Es ist still wie auf einem Friedhof«, raunte er zurück. »Keine Vögel, keine anderen Tiere. Ein Räuber ist unterwegs.«
    Pierre schluckte, aber die aufsteigende Angst schnürte ihm die Kehle zu. Er wagte nicht, sich zu räuspern; stattdessen hob er die Muskete und zielte dorthin, wo er das Knistern von Laub vernommen hatte.
    Ein dicht gewachsener Strauch zitterte, seine Zweige raschelten merkwürdig laut in der Stille des Waldes. Beinahe hätte Pierre abgedrückt, ungeachtet der Tatsache, dass sich Antoine irgendwo in dem Dickicht verbarg, um einen seiner zweifelhaften Späße zu treiben. Die Furcht überlagerte den Verstand.
    »Wagt es nicht, auf mich anzulegen«, sagte eine weibliche Stimme gestreng aus dem Unterholz. »Denn ich bin gewiss kein Räuber.« Eine Frau in schwarzem Ordensgewand trat zwischen den Bäumen hervor; in ihrer linken Armbeuge baumelte ein Korb mit Waldbeeren und Kräutern. Die dunkle Kleidung gab nur den Blick auf ihr ansprechendes Gesicht von etwa vierzig Jahren und auf die Hände frei, der Rest war sorgsam verhüllt. Ihre graubraunen Augen waren auf die Gewehre der Männer gerichtet. »Senkt eure Waffen,
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