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Ripley’s Game oder Der amerikanische Freund

Ripley’s Game oder Der amerikanische Freund

Titel: Ripley’s Game oder Der amerikanische Freund
Autoren: Patricia Highsmith
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Sie sagen es mir, wenn die Müdigkeit wieder auftritt…«
    Zwanzig Minuten später stieg Jonathan, einen Apfelkuchen und ein langes Baguette unter dem Arm, die Stufen zu seiner Haustür hinauf. Er schloß auf und ging durch den Flur in die Küche. Der Geruch nach Pommes frites ließ ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen. Die gab es bei Simone stets zum Mittagessen, nie abends, und sie schnitt die Kartoffeln immer in lange, schmale Stifte, nicht in kurze, dicke Stücke, wie in England üblich. Warum hatte er gerade an englische Chips gedacht?
    [29]  Simone stand am Herd, eine Schürze über dem Kleid, eine lange Gabel in der Hand. »Hallo, Jon. Du kommst spät.«
    Er legte den Arm um sie und küßte sie auf die Wange. Dann hielt er den Pappkarton hoch und drehte sich zu Georges um, der seinen blonden Kopf über den Tisch beugte und aus einer leeren Cornflakes-Schachtel Teile für ein Mobile ausschnitt.
    »Oh, ein Kuchen! Was für einer?« fragte Georges.
    »Apfelkuchen.« Jonathan legte den Karton auf den Tisch.
    Es gab ein kleines Steak für jeden, die köstlichen Pommes frites und grünen Salat.
    »Brezard fängt jetzt mit der Inventur an«, sagte Simone. »Nächste Woche kommt die Sommerware, darum will er am Freitag und Samstag einen Schlußverkauf machen. Heute abend könnte es später werden.«
    Sie hatte den Apfelkuchen auf dem Asbest-Teller aufgewärmt. Jonathan wartete ungeduldig darauf, daß Georges ins Wohnzimmer ging, wo er viel von seinem Spielzeug hatte, oder hinaus in den Garten. Als er endlich verschwunden war, sagte Jonathan:
    »Heute habe ich einen seltsamen Brief von Alan bekommen.«
    »Von Alan? Wieso seltsam?«
    »Er hat ihn kurz vor seiner Abreise nach New York geschrieben. Offenbar hatte er gehört…« Sollte er ihr Alans Brief zeigen? Sie konnte Englisch ganz gut lesen. Jonathan entschied sich dagegen. »Irgendwer hat ihm erzählt, daß es mir schlechter geht, daß sich mein Zustand deutlich verschlimmern wird, etwas in der Art. Weißt du was davon?« Jonathan sah ihr in die Augen.
    [30]  Simone schien ehrlich überrascht. »Aber nein, Jon. Woher auch, wenn nicht von dir?«
    »Eben war ich bei Dr.   Perrier. Daher auch die kleine Verspätung. Er sagte, er wüßte nicht, daß sich mein Zustand verändert hätte, aber du kennst ja Perrier!« Jonathan lächelte, beobachtete dabei aber ängstlich Simones Gesicht. »Hier ist der Brief.« Er zog ihn aus der Gesäßtasche und übersetzte den fraglichen Absatz.
    » Mon dieu! Woher hat er das bloß?«
    »Das ist die Frage. Ich werde ihm schreiben, was meinst du?« Wieder lächelte Jonathan, doch diesmal ungezwungener. Er war sicher, daß Simone nichts davon gewußt hatte.
    Mit einer zweiten Tasse Kaffee ging Jonathan in das kleine, quadratische Wohnzimmer hinüber, wo Georges sich mittlerweile mit seinen Schnipseln auf dem Boden ausgebreitet hatte, und setzte sich an den Schreibtisch, an dem er sich immer wie ein Riese vorkam. Es war ein eher zierlicher französischer écritoire , ein Geschenk von Simones Familie. Jonathan achtete darauf, sich nicht zu schwer auf die Schreibplatte zu stützen. Er nahm ein Aerogramm, adressierte es an Alan McNear im Hotel New Yorker und begann den Brief heiter und unverfänglich, um dann im zweiten Absatz fortzufahren:
    Ich weiß nicht genau, was Du in Deinem Brief mit dieser bestürzenden Neuigkeit (über mich) gemeint haben kannst. Mir geht es ganz gut, doch habe ich heute morgen mit meinem Hausarzt gesprochen, weil ich wissen wollte, ob er mir auch nichts verschweigt. Er sagt, er [31]  wüßte nicht, daß sich mein Zustand verschlechtert hätte. Also wüßte ich, lieber Alan, zu gern, woher Du das hast? Könntest Du mir bald einmal kurz zurückschreiben? Hier scheint ein Mißverständnis vorzuliegen. Ich würde es nur zu gern vergessen, aber Du verstehst hoffentlich, warum ich wissen will, woher Du es hast.
    Auf dem Weg zum Laden warf er den Brief in einen gelben Postkasten. Alans Antwort würde wahrscheinlich eine Woche brauchen.
    An diesem Nachmittag war Jonathans Hand so ruhig wie immer, als er das Rasiermesser an dem stählernen Lineal entlangzog. Er dachte an seinen Brief, der zum Flughafen von Orly unterwegs war und heute abend, vielleicht morgen früh, dort eintreffen würde. Er dachte an sein Alter – er war vierunddreißig – und daran, wie erbärmlich wenig er erreicht hätte, sollte er in wenigen Monaten sterben. Einen Sohn hatte er gezeugt, immerhin, doch brüsten konnte er sich damit wohl kaum.
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