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Ripley Under Water

Ripley Under Water

Titel: Ripley Under Water
Autoren: Patricia Highsmith
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nicht in der Verfassung, mir die Stadt anzusehen.« Ein aufgesetzt fröhliches Lachen. »Man hat –«
    Ein Knistern und Knacken in der Leitung; die Verbindung wäre fast abgebrochen, dann ein Klick, doch die Stimme kam wieder: »…mich gefunden und wiederbelebt. Wie du siehst, ha, ha. Die alten Zeiten sind unvergessen, was, Tom?«
    »O ja, allerdings«, erwiderte er.
    »Jetzt sitze ich im Rollstuhl. Irreparabler –«
    Wieder laute Geräusche in der Leitung, ein Klappern, als sei eine Schere oder etwas Größeres hinuntergefallen.
    »Ist der Rollstuhl zusammengebrochen?« fragte Tom.
    »Ha, ha!« Pause. »Nein, ich wollte sagen«, fuhr die jugendlich klingende Stimme ungerührt fort, »irreparabler Schaden am vegetativen Nervensystem.«
    »Verstehe«, erwiderte Tom höflich. »Schön, mal wieder von Ihnen zu hören.«
    »Ich weiß, wo du wohnst. « Bei dem letzten Wort ging die Stimme hoch.
    »Davon gehe ich aus. Schließlich haben Sie angerufen«, sagte Tom. »Bleiben Sie gesund, das wünsche ich Ihnen wirklich. Und gute Besserung.«
    »Solltest du auch! Wiederhören, Tom.« Der Anrufer legte schnell auf, vielleicht weil er sich das Lachen nicht länger verkneifen konnte.
    Sieh mal an, dachte Tom. Sein Herz schlug schneller als sonst. Aus Wut? Überraschung? Nicht aus Angst, sagte er sich. Der Gedanke war ihm durch den Kopf geschossen, die Stimme könne David Pritchards Gefährtin gehören. Wer sonst kam in Frage? Ihm wollte niemand einfallen.
    Was für ein übler, abscheulicher – ja, was? Streich? Geisteskrank, dachte Tom: das alte Klischee. Aber wer? Und warum? War das Gespräch wirklich aus Übersee gekommen, oder hatte das einer nur vorgetäuscht? Sicher war Tom nicht. Dickie Greenleaf – mit ihm hatte sein Ärger angefangen. Der erste Mensch, den er getötet hatte, und der einzige, bei dem er das bedauerte, das einzige Verbrechen, das ihm ehrlich leid tat. Dickie Greenleaf, ein für damalige Verhältnisse wohlhabender Amerikaner, der in Mongibello an der italienischen Westküste lebte, hatte ihm seine Gastfreundschaft erwiesen, ihn als Freund bei sich aufgenommen – und Tom hatte ihn respektiert und bewundert, vielleicht sogar zu sehr. Dann hatte Dickie sich von ihm abgewandt, was er nicht hinnehmen wollte, und ohne es genau geplant zu haben, hatte er Dickie eines Nachmittags, als sie allein in einem kleinen Boot saßen, mit dem Ruder erschlagen. Tot? Natürlich war Dickie tot, und das seit vielen Jahren schon! Tom hatte seine Leiche mit einem großen Stein beschwert und über Bord geworfen; sie war im Meer versunken, und Dickie war all diese Jahre nicht wieder aufgetaucht. Warum also jetzt?
    Düster starrte Tom auf den Teppich, während er langsam in seinem Zimmer auf und ab schritt. Ihm wurde leicht übel; er atmete tief durch: Nein, Dickie Greenleaf war tot (das war sowieso nicht seine Stimme gewesen), und er selbst war in seine Haut, seine Kleidung geschlüpft, hatte eine Zeitlang Dickies Paß benutzt, aber auch damit bald aufgehört. Greenleafs formloses Testament, von Tom eigenhändig gefälscht, hatte einer Untersuchung standgehalten. Wer also hatte die Stirn, die Sache wieder aufzuwärmen? Wer wußte so viel, wem war sie so wichtig, daß er Toms damalige Verbindung zu Dickie Greenleaf ausgegraben hatte?
    Gleich würde er sich übergeben müssen. Wenn ihm übel wurde, konnte er das Erbrechen nie lange unterdrücken. War nicht das erste Mal. Er hob die Toilettenbrille und beugte sich über die Schüssel. Glücklicherweise kam nur wenig Flüssigkeit, doch sein Magen schmerzte einen Moment. Er drückte die Spülung und putzte sich die Zähne über dem Waschbecken.
    Zum Teufel mit den Hurensöhnen, wer sie auch waren, dachte Tom. Sein Gefühl sagte ihm, daß da eben zwei in der Leitung gewesen waren – nur einer hatte gesprochen, der andere zugehört, daher das Gekicher. Er ging nach unten. Im Wohnzimmer traf er Madame Annette, die eine Vase mit Dahlien trug – sie hatte wohl das Wasser gewechselt. Bevor sie die Vase auf das Sideboard zurückstellte, wischte sie ihren Boden mit einem Lappen ab. »Ich gehe für eine halbe Stunde weg, Madame«, sagte Tom auf französisch. »Falls jemand anruft.«
    »Oui, Monsieur Tomme«, erwiderte sie und fuhr mit ihrer Hausarbeit fort. Madame Annette war schon seit Jahren bei Tom und Héloïse. Ihr Zimmer und Bad lagen von der Straße aus gesehen links, mit eigenem Radio und Fernseher. Auch die Küche war ihr Reich, das sie aus ihrer Unterkunft über einen kleinen
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