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Tiefschlag

Tiefschlag

Titel: Tiefschlag
Autoren: John Baker
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KAPITEL EINS
     
    A uf den ersten Blick war sie eine nette alte Dame, auf den zweiten jedoch wirkte sie sonderbar. Lag es vielleicht an ihrem Gang? Wie sie bedächtig den Kopf schüttelte oder immer wieder den vorbeifahrenden Autos Blicke nachwarf? Auch ihre Kleidung war oberflächlich betrachtet völlig normal. Cal hatte sich immer noch nicht an die neuen Farbbildschirme der Videoüberwachungsanlage gewöhnt. Er sah einen rostfarbenen Rock und eine kastanienbraune Strickjacke, die sie sich über die Schultern drapiert hatte. Bei genauerem Hinsehen konnte er kräftige Lederschuhe und die dauergewellte Frisur im Stil der vierziger Jahre erkennen, steif von Haarfestiger, straffe kleine Löckchen, die ihre obere Gesichtspartie einrahmten. Nein, er hatte das Bild seiner Großmutter im Kopf. Solche Assoziationen lösten die Monitore manchmal aus: Sie lieferten eine recht klar umrissene Kontur, die von der Phantasie mit weiteren Details ausgeschmückt wurde.
    Wenn man Nacht für Nacht vor den Monitoren hockte, bekam man ein Gespür dafür, wer eine Show abziehen würde. Es war beinahe, als müßten sie es im voraus signalisieren, um die Welt nicht völlig zu überraschen. Cals Freund und Kollege Geoff sagte dann beispielsweise: «Hier ist wieder einer. Weiß der Kuckuck, was er gleich anstellt, aber irgendwas wird er machen.» Und dann ging Cal zu Geoff hinüber, und sie verfolgten gemeinsam, was sich auf dem Bildschirm abspielte. Meistens behielt Geoff recht. In neun von zehn Fällen brach jemand ein Auto auf, provozierte eine Schlägerei oder schaute sich um, wartete auf eine Lücke im Verkehr und sprang dann über eine Mauer, um in ein Haus oder Geschäft einzusteigen.
    In jeder Schicht gab es Typen von dieser Sorte. Die Kollegen redeten manchmal darüber. Bevor Cal diesen Job angenommen hatte und er noch mit Überwachungsaufgaben in Nordirland betraut war, konnte er oft genug einen Unruhestifter auf der Straße bereits identifizieren, ehe der Betreffende selbst wußte, daß er gleich Arger machen würde.
    In unterschiedlichen Gegenden hatte man natürlich mit unterschiedlichen Typen zu tun. Auf diesem Bildschirm, dem mit der alten Dame, die bestimmt bald etwas anstellen würde, wozu sie allerdings noch nicht gekommen war, überwachte er den Straßenabschnitt der Micklegate in der Nähe des Stadttores. Heute wurde neben dem inneren Straßenring und den Hauptverkehrsadern der größte Teil des Yorker Stadtkerns von Videokameras kontrolliert. Tagsüber war die Micklegate ein belebtes Einkaufsviertel, abends jedoch schickten die Luden ihre Schützlinge auf Streifzug durch die Bars und Clubs, und die einheimischen (und weniger einheimischen) Freier tauchten in hellen Scharen auf dem Autostrich auf. Gelegentlich veranstalteten Anlieger Krawall, und manchmal entlud sich die Gewalt auf der Straße. Aber normalerweise drückte die Polizei ein Auge zu und sackte einen Teil der Profite ein. Der Kamin rauchte eben, wie es schon seit Anbeginn der Welt gewesen war. Erst in den letzten Monaten waren hier Kameras montiert worden, was manche Stadträte, aber auch der Durchschnittsbürger nicht ganz nachvollziehen konnten. Ihrer Meinung nach hätte die Videoüberwachung einer verrufenen Gegend wie dieser eigentlich Priorität haben müssen vor den Wohnvierteln und der äußeren Ringstraße, aber sie waren nicht auf dem laufenden, was moderne polizeiliche Überwachungsmethoden betraf, und obendrein ausgeschlossen aus dem komplizierten System von Schmiergeldzahlungen, Bestechungsgeldern und Korruption.
    Um diese Abendstunde jedoch herrschte tote Hose. Die Geschäfte mit langen Öffnungszeiten machten den Laden dicht, und die Clubs und Bars warteten auf das Eintreffen ihres Personals. Der Tag machte Feierabend, und die Nacht war noch nicht richtig in die Gänge gekommen. Die Leute, die jetzt über Cals und Geoffs Monitore wanderten, wie beispielsweise die alte Dame, die ständig ihren Kopf schüttelte, konnten zum Tag gehören oder zur Nacht, es war nicht immer eindeutig zu erkennen. Auch möglich, daß sie überhaupt nichts mit dieser Gegend zu tun hatten. Vielleicht kamen sie nur gerade durch.
    Cal und Geoff waren ebenfalls nicht an den Schmiergeldzahlungen, Bestechungsgeldern und der Korruption beteiligt. Nichtsdestoweniger standen sie mit beiden Beinen in der Wirklichkeit und waren in der Lage, daraus ihren Vorteil zu ziehen. Sie wußten, was freies Unternehmertum war, was es bedeutete und wie man es ans Laufen brachte. Sie waren beide
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