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Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)

Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)

Titel: Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)
Autoren: Samuel Benchetrit
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kurzen Augenblick, und dann sorge ich dafür, dass es wieder aufhört. Ich glaube, es ist wegen Henry. Weil er sich immer über mich lustig macht, und wenn ich heule, dann setzt er gleich noch einen drauf. Das macht mich echt fertig. Den hätte ich gern mal in meinem Alter erlebt, ich bin mir sicher, der war eine Heulsuse vor dem Herrn.
    Jedenfalls war es wie ein heilsamer Schock, als ich feststellte, dass ich weinte. Und während ich darüber nachdachte, was für ein blöder Idiot Henry war, schlief ich ein.
     
    Ich weiß nicht, ob es Ihnen auch so geht, aber ich träume am Morgen immer das komischste Zeug. Das weiß ich, weil ich mich jedes Mal, wenn ich morgens wieder einschlafe, beim Aufwachen haarklein an alle Träume erinnern kann. Und die sind meistens komplett irre. Manchmal träumt man morgens auch einfach nur, was nach demAufwachen so ansteht. Wenn ich zum Beispiel an einem Sonntagmorgen noch einmal einschlummere und nachmittags ein Fußballspiel habe, träume ich von dem Match. Und wenn ich dann nachmittags tatsächlich spiele, träume ich von dem Traum. Total verrückt. Was ich allerdings echt übel finden würde, wäre, wenn ich von einem 3:0 träumte und dann ein Eigentor schießen würde. Das ist mir glücklicherweise noch nie passiert.
    Heute Morgen habe ich von meinem Bruder Henry geträumt. Ich habe geträumt, dass ich ihn überall in der Stadt suchte, um ihm zu sagen, dass die Polizei gekommen ist und Maman mitgenommen hat. In meinem Traum kamen übrigens keine Polizisten vor, nur die seltsame Frau, mit der meine Mutter den Hausflur verlassen hat. Ich sah die beiden auf dem Treppenabsatz. Meine Mutter schaute mich an und lächelte mir zu, wie sie es immer macht. Ich war es, der im Unterschied zu sonst kein bisschen lächelte. Der Fahrstuhl kam und kam nicht, daher nahmen die beiden die Treppe. Sie gingen an mir vorüber, und die Frau fragte meine Mutter, ob sie mich kennen würde. Nein, sagte meine Mutter. Und lächelte ununterbrochen.
    Auf einmal befand ich mich auf dem Dach des Einkaufszentrums. Sie wissen ja, in Träumen läuft es wie im Film: Man muss nicht groß zeigen, wie der Held aus dem Treppenhaus aufs Dach des Einkaufszentrums gekommen ist.
    Oben entdeckte ich Henry, er war auf einem Trip undlag starr auf dem Boden. Und zwar so benebelt, dass es der Realität schon verdammt nahekam. Ich suche dich seit Stunden, sagte ich zu ihm, und auch, dass Maman von Polizisten und einer Frau einkassiert worden war. Komisch, dass ich die Polizisten erwähnte, obwohl ich sie doch nicht gesehen hatte. Henry rappelte sich hoch. Ich müsse jetzt stark sein, meinte er, mutig und so, und ich solle ruhig wieder flennen, er würde sich diesmal nicht darüber lustig machen. Ich habe sofort losgeheult. Es sei normal, dass man Maman abgeholt habe, erklärte er mir. Das sei immer so. Alle Mütter der Welt würden eines Morgens einfach gehen. Man sucht nach ihnen, und dann gehen sie mit und lassen ihre Kinder zurück. Ich fragte Henry, was nun mit Maman geschehen würde. Das wisse niemand, sagte er.
    Und dass Maman nie wirklich existiert habe.

Viertes Kapitel

9 Uhr 30
     
     
    Ich beschloss, Henry zu suchen, um ihm zu erzählen, was passiert war. Nicht wegen des Traums, sondern weil ich ihn doch wohl auf dem Laufenden halten musste. Und vielleicht gab es ja tatsächlich eine Erklärung.
    Es war lange her, seit ich zum letzten Mal den Unterricht verpasst hatte. Und selbst wenn ich vom Klassenbesten meilenweit entfernt war, hatte ich mich bisher ganz tapfer in der Schule geschlagen. Vor allem in Französisch.
    Am liebsten schreibe ich Aufsätze. Ich zermartere mir immer das Hirn und lege mein ganzes Herz da hinein. Beim letzten Mal habe ich achtzehn Punkte bekommen, und die Lehrerin hat
Ausgezeichnete Arbeit!
neben die Note geschrieben, in Rot. Ich will ja nicht als Angeber dastehen, aber das hätte Sie auch umgehauen. Das Thema lautete:
Wie ich mir mein späteres Leben vorstelle.
Die anderen in meiner Klasse warfen sich mächtig ins Zeug und schrieben seitenlang so von wegen, später möchte ich Pilot werden oder ein supertolles Schiff besitzen, eine spitzenmäßige Frau, einen sensationellen Job. Ich fand das ziemlich kurzsichtig. Deshalb habe ich über meinen Brudergeschrieben. Man muss dazu wissen, dass Henry ein brillanter Schüler war, weit besser als der Durchschnitt. Er hatte in der Grundschule eine Klasse übersprungen, was ihm kaum zu schaffen gemacht hat, so gut war er. Er brauchte ein Buch nur ein
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