Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)

Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)

Titel: Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)
Autoren: Samuel Benchetrit
Vom Netzwerk:
Gefühl, ich würde sie nie wiedersehen.

Drittes Kapitel

8 Uhr 20
     
     
    Zu den Dingen, die ich im Leben am meisten mag, gehört das Schlafzimmer meiner Mutter. Ich liebe es, dort herumzustöbern. Sie hat eine Menge Sachen, die ich gern berühre und in die Hand nehme.
    Ich ließ mich auf den Stuhl vor ihrer Frisierkommode sinken. Das Ding sieht eigentlich eher aus wie ein Schreibtisch, aber sie nennt es nun mal Frisierkommode. Der Stuhl ist sehr bequem. Sie hat ihn mit Kissen gepolstert und ein Tuch über die Lehne gebreitet. Da saß ich also und schaute aus dem Fenster. Seltsam, aus diesem Fenster hat man einen ganz anderen Blick als aus den übrigen Fenstern in der Wohnung. Das Wohnzimmer, die Küche und Henrys und mein Zimmer gehen nach vorne, auf den Eingangsbereich unseres Wohnturms hinaus. Meine Mutter hingegen sieht auf eine Siedlung mit Einfamilienhäusern, dahinter liegt der Sportplatz.
    Der Frisiertisch hat zwei kleine Schubladen. In der rechten bewahrt meine Mutter ihren ganzen Schmuck auf: Ketten, Reife und Ringe, ein Armband, in das der Vorname meines Bruders eingraviert ist, eine Medaille mit der Aufschrift »
+
qu’hier – que demain
« – mehr als gestern,weniger als morgen –, unzählige Anhänger und Ohrringe. Manchmal, wenn ich genug Zeit habe, probiere ich alles an. Dann sehe ich aus wie ein Rapper … Na ja, eben wie ein Rapper, der sich den Schmuck seiner Mutter unter den Nagel gerissen hat. In der linken Schublade liegen Briefe, Rechnungen, Garantien und mein Personalausweis. Also, mein Personalausweis ist ja auch so eine Sache, mit der ich mich stundenlang beschäftigen könnte. Meine Mutter will nicht, dass ich da rangehe, als wenn dieses Dokument das einzig Wertvolle in unserer Wohnung wäre. Auf dem Foto muss ich ungefähr fünf sein, habe einen Afro-Look allererster Güte, vorn fehlen mir zwei Schneidezähne, und ich grinse wie bescheuert in die Kamera. Ich bin echt süß auf dem Bild. Wirklich, ich schwör’s Ihnen. Heute strahle ich nicht mehr so. Wenn Sie meine Klassenfotos eins neben das andere legen, werden Sie feststellen, dass dieses Strahlen von Jahr zu Jahr mehr aus meinem Gesicht verschwindet. Das geht wahrscheinlich allen so. Als Kind bringt einen alles zum Lachen, und als alter Mensch ist es genau das Gegenteil: Man findet immer etwas zum Meckern. Zumindest trifft das auf die Alten hier in der Cité zu, die schimpfen so viel, dass ich oft ganz deprimiert bin.
    Heute Morgen, weil meine Mutter ja weg ist, wollte ich mich noch mal in Ruhe umsehen. Um eine Erklärung zu finden. Ich bin also den Stapel Papiere in der linken Schublade durchgegangen und auf den Brief meines Vaters gestoßen. Den letzten, den er meiner Mutter geschriebenhat. Obwohl ich ihn in- und auswendig kenne, habe ich ihn noch einmal gelesen. Er schreibt ihr, dass er gut in Mali angekommen ist und dass ihn Freunde der Familie bei sich aufgenommen haben. Dass er sich gleich am nächsten Tag eine Arbeit suchen wird, um so rasch wie möglich Geld schicken zu können. Dass er uns sehr liebt und wir ihm sehr fehlen, schreibt er auch noch.
    Der Brief ist so alt wie ich, zehn Jahre, und seitdem ist nie wieder etwas gekommen. Absolute Funkstille. Als meine Mutter einmal bei der Familie meines Vaters angerufen hat, erzählte man ihr, er wäre doch nur für einen Monat gekommen und längst zurück in Frankreich. Nie wieder hat sie danach auch nur versucht, ihn ausfindig zu machen.
    Eines Abends sprach ich sie darauf an. »Glaubst du, Papa ist tot?«
    »Ich weiß es nicht, Charly.«
    »Und wenn er nicht tot ist, was glaubst du, wo er ist?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Warum willst du es nicht wissen?«
    »Hör zu, Charly, wenn dein Vater tot ist, dann ist es besser, es nicht zu wissen, dann bleibt wenigstens die Hoffnung … Und wenn er noch lebt, dann ist es auch besser, es nicht zu wissen, denn ich könnte Lust bekommen, ihn umzubringen!«
    Das ist meine Mutter. Man stellt ihr eine völlig arglose Frage, und sie schleudert einem ihre Antwort nur so um die Ohren.
    Ich schob die Schublade wieder zu und betrachtete all die Flakons, Tiegel und Tübchen und Wattebäuschchen auf dem Frisiertisch. Es waren mindestens fünftausend. Die meisten Fläschchen waren ein Geschenk von den Rolands, dem älteren Ehepaar, bei dem meine Mutter schon seit fünfzehn Jahren arbeitet. Die Rolands sind die nettesten Menschen, die man sich vorstellen kann. Ich habe sie nur ein paar Mal gesehen, aber sie geben meiner Mutter immer ein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher