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Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)

Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)

Titel: Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)
Autoren: Samuel Benchetrit
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zwar noch nicht verstanden, aber ich erzähle es Ihnen vielleicht trotzdem am besten gleich. Gewisse Dinge muss man sich von der Seele reden, sie müssen raus, sonst bilden sich im Bauch Kugeln, die schließlich explodieren. So wie es dem Vater meines Kumpels Régis Montales ergangen ist, den hat man nämlich eines Morgens tot im Bett gefunden, er badete in mindestens hundert Litern Blut. Der alte Kerl machte immer den Eindruck, als würde er wie im Märchen leben, aber die Leute sagten, er starb, weil er so traurig war, dass seine Frau ihn zehn Jahre zuvor verlassen hatte. Mein Tipp ist ja eher, dass er sich zu Tode gesoffen hat. Jedenfalls wurde Régis danach zu seiner Oma geschafft und hat inzwischen den Ruf, der gewalttätigste kleine Junge von ganz Frankreich zu sein. Bestimmt wird Régis in zwanzig Jahren über eine Riesenkugel im Bauch klagen, die dann explodiert. Genauso derSohn von Régis, zwanzig Jahre später, und so weiter, bis die Autos fliegen können und die Pitbulls zu den vom Aussterben bedrohten Tieren gehören.
    Wahrscheinlich finden Sie mich seltsam, weil ich Ihnen ein derartiges Durcheinander auftische, aber das gehört zu mir. Und genau darin liegt mein Problem. Wenn meine Mutter zum Elternabend geht, erzählen die Lehrer ihr, wie gut ich bin und so, aber zum Schluss sagen sie immer, dass ich mich mehr konzentrieren muss. Ich habe meiner Mutter gesagt, dann sollen sie die Stunden eben interessanter machen, aber sie hat mich ausgeschimpft. Meine Mutter gehört zu den Menschen, die überzeugt davon sind, dass die Schule eine Chance fürs Leben ist und dass die blöden Lehrer immer recht haben. Wenn man ihr erklären würde, an meinen Problemen wären meine Beine schuld, dann würde sie mir die bestimmt abhacken. Meine Mutter hat nie eine Schule besucht, und sie braucht mindestens drei Wochen, um einen Brief zu lesen. Als ich ihr zum ersten Mal ein Gedicht vorgelesen habe, da hat sie eine Stunde lang geheult, mir einen Geldschein in die Hand gedrückt und gemeint, sie wäre stolz auf mich. Ich wollte ihr noch einen Haufen anderer Sachen vorlesen, aber sie hat sich dran gewöhnt und zetert jetzt dauernd herum wegen meiner Konzentrationsschwierigkeiten.
    Na ja, das Leben ist kein Wunschkonzert.
    Am schlimmsten ist es, wenn dir jemand gerade was von deinen Konzentrationsschwierigkeiten erzählt, während du dasitzt und zuhörst, aber nach zwei Sekundenfeststellst, dass du längst abgeschweift bist. Wenn man sich dann nicht schämt, ist man echt ein Vollpfosten.
    Sehen Sie, schon habe ich wieder den Faden verloren. Ich muss mich behandeln lassen. Es kann doch nicht sein, dass man ständig an tausend Dinge gleichzeitig denkt. Am besten ist es, wenn ich an Mélanie Renoir denke. Also, da kann die Welt um mich herum explodieren, wenn ich an dieses Mädchen denke, kann ich meinen eigenen Pulsschlag hören, und mein Mund wird ganz trocken. Sie haut mich um. Ich würde für sie sterben, sie müsste es nur von mir verlangen. Wir haben uns Anfang des Jahres kennengelernt, als ich ans Collège Charles Baudelaire gekommen bin. Wenn man da aufgenommen wird, muss man ein Baudelaire-Gedicht auswendig lernen. Wohlgemerkt auswendig, ansonsten fliegt man gleich wieder raus. In diesem Jahr war es
Der Mensch und das Meer
. Ein tolles Gedicht. Baudelaire sagt eine Menge Dinge, die ich echt klasse finde.
    In dem Gedicht sagt er:
Du freier Mensch, du liebst das Meer voll Kraft./Dein Spiegel ist’s. In seiner Wellen Mauer/Die hoch sich türmt, wogt deiner Seele Schauer.
    Das hat mir eine richtige Gänsehaut gemacht.
    Wie auch immer, es wird jedenfalls ein Schüler ausgewählt, der das Gedicht vor versammelter Mannschaft im Speisesaal aufsagen muss. Sie losen aus, wer es sein soll, und wir beten dann alle, dass es einen anderen trifft. Zum Glück haben einige wirklich Pech im Leben. Damit meine ich zum Beispiel Freddy Tanquin. Dieser Typ zieht dasUnglück derart an, dass er sogar im Sommer mit einem Schal um den Hals rumläuft, weil er sich sonst bestimmt erkälten würde. Wenn es vierzig Grad heiß ist und man mit Schal um den Hals aufkreuzt, hinterlässt man nicht gerade den Eindruck, ein starker Typ zu sein.
    An dem Tag musste Freddy mitsamt seinem Schal vor die vollständig einberufene Schülerschaft treten.
    Die Direktorin sagte: »Monsieur Tanquin wird uns nun das Gedicht von Charles Baudelaire vortragen.«
    Freddy räusperte sich mindestens fünftausend Mal, bevor er ansetzte:
» Der Mensch will immer mehr …
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