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Richard Lukastik Bd. 2 - Mariaschwarz

Richard Lukastik Bd. 2 - Mariaschwarz

Titel: Richard Lukastik Bd. 2 - Mariaschwarz
Autoren: Heinrich Steinfest
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doch noch zu schreien. Und während er schrie, schlug das Wasser gegen sein Kinn.
    Ertrinken ist eine dumme Sache, dachte er. Aber nichts im Vergleich zu dem, was er in den letzten Jahren durchgemacht hatte. Denn ertrinken würde er nur selbst müssen. Es war alles leichter, was man bloß am eigenen Leib durchzumachen hatte.
    Auch erschlagen zu werden. Erschlagen zu werden war sowieso die bessere Lösung. Auch die schnellere.
    Etwas kippte herunter, von der Öffnung her. Olander meinte noch, ein Stück des Felsens habe sich gelöst, und indem dieses Ding jetzt auf seine Schulter prallte, drückte es ihn unter Wasser. Sein Mund füllte sich. Seine Nase. Alles füllte sich. Mit einem Mal aber schob ihn ein fester Griff nach oben, sein Schädel schoß über die Oberfläche, und er spuckte aus, was er noch nicht hatte schlucken müssen. Jemand hielt ihn fest. Dieser jemand war offensichtlich heruntergesprungen und hatte mit dem Eintauchen ins Wasser Olander gepackt und ihn ein Stück mit in die Tiefe gezogen. Auf diese Weise war das festgeklemmte Bein aus der Spalte herausgebrochen, nicht ohne selbst einen Bruch zu erleiden. Doch diesen Bruch brauchte Olander nicht mehr zu spüren, obgleich er bei Bewußtsein blieb, aber eben bloß noch halsaufwärts, mit dem Teil also, der sich jetzt glücklicherweise wieder an der Luft befand und dort auch verblieb.
    Das Wasser stieg weiter, allerdings war dies nun ein Vorteil. Dank dessen Olander und sein Retter nach oben gelangten. Das Wasser trug sie. Der Mann, der Olander von hinten umklammert hielt, erwies sich als ein guter Schwimmer. Ein sportlicher, ausdauernder Mensch. Trotz seiner siebzig Jahre. Aber was waren schon siebzig Jahre, wenn man ein Stück Holz war. Als ein solches hatte sich Job Grong einmal charakterisiert, wohl diese gewisse Knorrigkeit und Sprödheit seines Wesens bezeichnend. Aber sicher meinte er damit auch die eigene Beständigkeit. Wie gut jedenfalls, wenn man ein Stück Holz war, das nicht unterging.
    Das glucksende, geradezu sprudelnde Wasser trieb die beiden Körper bis an den Rand der Öffnung, wo es überlief und Richtung des Mariensees abfloß. Job Grong stemmte sich über die Kante, dann zog er seinen Stammgast heraus und beförderte ihn auf ein kleines ebenes Felsstück. Er kontrollierte umgehend die wichtigsten Lebensfunktionen und griff dann nach einem Handy, welches er in weiser Voraussicht in einer Nische plaziert hatte, während ja die meisten Menschen, wenn sie zwecks Lebensrettung in ein Wasser springen, dies mitsamt all ihrem Zubehör tun. Nicht so Grong, der nun einen Notarzt anforderte.
    »Ich bin…okay«, stammelte Olander. Er sprach in diesem leicht blubbernden Ton, wie Fische, die gerade reden lernen.
    »Ja, Sie sind okay«, sagte Grong und betrachtete das zur Seite gedrehte, astartig geknickte Unterbein Olanders.
    Im Grunde ging alles gut aus. Auch wenn der Bruch kompliziert war. Aber es gab Schlimmeres. Denn selbst wenn ein kleines Hinken zurückblieb, würde es gewissermaßen das Hinken des anderen Beins ausgleichen. Wie ein Gebäude, das einmal rechts abrutscht und dann links und schlußendlich wieder gerade dasteht.
    Nach einer Woche im Spital konnte Vinzent Olander in häusliche Pflege entlassen werden, was in seinem Fall bedeutete, mitsamt seinem Gipsbein ins Hotel Hiltroff und ins POW! zurückzukehren und in der nächsten Zeit ausschließlich zwischen diesen beiden Plätzen zu pendeln, wobei er den Wechsel vom ersten Stock in die ebenerdig gelegene Bar nur mit Hilfe eines der beiden Grongs bewerkstelligen konnte. Besser wäre gewesen, in einem Rollstuhl zu sitzen. Aber erstens fehlte ein Lift. Und außerdem scheute Olander solche Geräte, welche die Gefahr bargen, nie wieder aus ihnen herauszufinden, in der Bequemlichkeit der Invalidität zu versinken. Und das wollte Olander keinesfalls. Er glaubte jetzt mehr denn je – nachdem er diese Wassergeschichte überlebt hatte –, nur darum in Hiltroff zu sein, um Clara wiederzufinden. Auch wenn während dieser drei Jahre Warterei sich nicht der geringste Hinweis auf den Verbleib des Kindes ergeben hatte.
    »Ich würde Ihnen gerne etwas erzählen, Herr Grong, wenn Sie Zeit haben«, sagte Vinzent, als er gegen sieben Uhr abends, der einzige Gast, sein eingepupptes Bein auf der ledernen Bank hochgelagert, bei seinem zweiten Quittenschnaps saß, somit noch zwei Holyheads vor sich hatte.
    Das perfekte Verhältnis zwischen Wirt und Gast hatte eine Trübung erfahren. Das versteht sich.
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