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Rettung am Straßenrand

Rettung am Straßenrand

Titel: Rettung am Straßenrand
Autoren: Lindsay Gordon
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hatte, und trug einen ganz dünnen Schnurrbart. Sein Gesicht schien nur aus Winkeln zu bestehen, gemeißelte Wangenknochen, kantiges Kinn, eine lange, dünne Nase. Er erinnerte mich an einen Piraten, und das rote Tuch um seinen Hals verstärkte diesen Eindruck noch.
    Er lächelte mich an, und ich bemerkte, dass einer seiner Schneidezähne mit Gold überzogen war und er strahlend blaue Augen hatte. Als er theatralisch hustete, fiel mir auf, dass ich ihn angestarrt hatte.
    »Tut mir leid«, murmelte ich und spielte an den Knöpfen meines Mantels herum, weil es mir peinlich war.
    Er zuckte mit den Achseln. »Ich wette, deine Mutter hat dir auch gesagt, dass es unhöflich ist, jemanden anzustarren, nicht wahr?«
    Ich nickte.
    »Und … Gefällt dir, was du siehst?« Er streckte die Arme aus und sah an seinem Körper herab, als wolle er mich auffordern, dasselbe zu tun.
    »Oh ja«, erwiderte ich, ohne nachzudenken.
    Er lachte laut auf.
    »Nein … Nein … Sie verstehen das falsch. Es ist nur so, dass …« Ich hielt mitten im Satz inne, als mir auf einmal bewusst wurde, wie dämlich sich das anhören musste. »Wissen Sie, als Sie mit der Kapuze auf dem Kopf aus dem Wagen gestiegen sind, haben Sie mich irgendwie an den Sensenmann erinnert. Jetzt bin ich bloß erleichtert, dass Sie so normal aussehen.«
    »Normal? Das hat man noch nie über mich gesagt.« Er streckte die Hand aus. »Johnny Lee. Freut mich, dich kennenzulernen.«
    Wir schüttelten uns die Hand, und er hielt meine ein wenig länger fest, als es nötig gewesen wäre. Ich konnte die dicken Schwielen auf seiner Handfläche spüren. Er zog seine Hand langsam zurück, sodass seine Finger über meine Haut strichen. Daraufhin fing es entlang meiner Wirbelsäule an zu kribbeln. »Ich bin Jo.«
    Ich aß ein Schinkensandwich, während Johnny ein gewaltiges Pfannengericht in sich hineinschaufelte. Nach mehreren Tassen Tee war mir endlich wieder warm. Während des Essens sagten wir nicht viel, aber aus irgendeinem Grund musste ich ihn immer wieder ansehen.
    Er trug ein Jeanshemd, das am Hals nicht mehr ganz sauber war, und darüber eine Lederweste. Als er nach der Ketchupflasche griff, sah ich an der Innenseite seines Unterarms eine breite Narbe.
    Ich weiß nicht, was in dem Moment über mich kam, aber ich konnte dem Drang nicht widerstehen und musste sie berühren. Ich nahm sein Handgelenk in die Hand und strich mit dem Daumen über die wellige Haut. Johnny knöpfte sich mit der anderen Hand die Manschette auf und schob den Ärmel bis zum Ellbogen hoch, damit ich mehr von der Narbe sehen konnte. Ich strich mit zitternden Fingern darüber, als würde ich Brailleschrift lesen. Als er den Arm schließlich wegzog, merkte ich, dass ich die Luft angehalten hatte.
    »Wie ist das passiert?«, wollte ich wissen.
    Er zuckte mit den Achseln. »Das war ein Arbeitsunfall.«
    Draußen half mir Johnny in das Führerhaus des LKW. Es war groß und ziemlich luxuriös. Die Sitze waren breit und bequem, und hinter uns befand sich ein mit einem Vorhang abgetrennter Bereich, in dem der Fahrer schlafen konnte. Johnny zog seinen Mantel aus und warf ihn nach hinten. Dann ließ er den Motor an, der lautstark zum Leben erwachte.
    »Das ist eine richtige Bestie, was? Ich glaube, ich habe noch nie in so einem großen Truck gesessen.«
    Er lachte. »Du hast recht, der ist nicht ohne. Ich habe nicht gewusst, dass du dich öfter von LKW-Fahrern mitnehmen lässt. Was ist der Grund dafür? Stehst du auf den Geruch von Öl? Magst du große, haarige Männer mit Dreck unter den Fingernägeln?«
    »Der Grund dafür ist ziemlich einfach: Mein Freund studiert in Durham, und ich kann mir die Zugfahrt nicht leisten.«
    »Darum riskierst du also dein Leben. Die Hormone sind schuld.« Er lenkte den Wagen auf die Straße. »Wir halten uns gern für zivilisiert und rational, aber unter der Oberfläche sind wir alle immer noch Tiere, die von ihren Instinkten gelenkt werden.« Er drehte sich um und sah mich an, und in dem gedämpften Licht in der Fahrerkabine konnte ich deutlich seinen goldenen Zahn und seine glänzenden Augen erkennen. Ich wandte den Blick ab. Meine Kopfhaut schien vor Aufregung zu kribbeln.
    »Was transportieren Sie? Irgendwas Interessantes?«
    »Eigentlich ist das ein Tiertransporter, der für Tierkäfige umgebaut wurde. Ich gehöre zu einem Zirkus«, fügte er hinzu, als er meinen verwirrten Gesichtsausdruck bemerkte.
    »Zu einem Zirkus? Dann sind Sie ein Löwenbändiger?«
    »Unter anderem. Im
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