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Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)

Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)

Titel: Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)
Autoren: Marianne Reuther
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Spendern zum Pro- und Kontra-Gerangel im Lesesaal einfänden. Er atmete mit jedem Schritt die Unruhe ein, die ihn befallen hatte. Doch es gab kein Zurück.
    Das Handtuch war noch sehr feucht. Er ging daran, es zu föhnen. Dafür hatte er keine Zeit eingeplant. Nach kurzem Überlegen band er das Kabel des Föns an der Türklinke fest, hängte das Handtuch über die Stuhllehne und rückte den Stuhl in den Luftzug. Nun zog er sich aus und begann, die schwarze Masse auf seine Haut aufzutragen. Auf Gesicht, Hals und den ganzen Körper. Den größten Zeitaufwand und einige Akrobatik beanspruchte der Rücken. Die Arbeit schöpfte die eingeplante Dreiviertelstunde voll aus.
    Das Handtuch war jetzt nahezu trocken. Er legte es als Lendenschurz an, er wollte nicht splitterfasernackt zur Welt kommen.
    Er war bereit. Er setzte sich ans Fenster und wartete darauf, dass die Dämmerung in Dunkelheit überging.
    Lautlos zog er die Tür hinter sich zu, schlich die Wände entlang durch die leeren Gassen und Pfade zum Kirmesplatz. Seine Hand umschloss den in vielen Nächten gefertigten Magnetschlossöffner und seine Lippen beteten stumm: Lieber Gott, hilf, dass mein Werkstück funktioniert.
    Die Kletterpartie über die Wurfbuden hatte er im Geiste ein Dutzend Mal geprobt. Er erklomm flink das Budendach von Süd und hangelte sich auf dem in West ebenso schnell herab. Hier wartete er zwanzig Atemzüge lang und horchte auf die Geräusche, die vom Zentrum hierher drangen. Wie von seiner Zeit in West in Erinnerung ging es hier um diese späte Stunde noch ziemlich lebhaft zu. Er musste vermeiden, in seiner Aufmachung jemandem zu begegnen, und zog den Umweg an der Peripherie entlang vor. Die Zeit dafür war eingeplant.
    Den um diese Zeit menschenleeren Kirmesplatz überquerte er diagonal und passierte die Radrennbahn an der Innenseite der Hecke mit weit ausholenden Schritten. Die Fasanengasse musste er in gebückter Haltung zurücklegen, denn die Kemenatenfenster waren hier so niedrig, dass man ihn sonst von drinnen aus hätte sehen können. Im Tulpenpfad allerdings konnte er wieder aufrecht gehen. An der Falkengasse angelangt, lugte er vorsichtig um die Ecke, ob nicht gerade das Kino aus war und die Spender herausströmten. Die gleiche Vorsicht war in der Geiergasse geboten. Hier gab es ein Bistro auf der einen und eine Eisdiele auf der anderen Seite. Dann kam der Jasminpfad und auf dem musste er nur noch eine kleine Gasse überqueren. Er gelangte einen Block weiter in den Fliederpfad mit dem „Palmenhof“. Jetzt hatte er seine erste große Hürde vor sich: ungesehen in das Restaurant zu gelangen und sich bis zur Schließung unter dem Tisch zu verstecken, der sich zwischen der Eingangstür und dem Niedergang zu den Toiletten befand, hinter einer Säule mit üppigem Efeubewuchs.
    Klaviermusik drang durch das gekippte Fenster. Edmund stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte ins Lokal. Kein Gast war zu sehen. Nur der Anton. Wieso war der noch immer in West? Waren Kellner etwa privilegiert wie Ärzte und Betriebsschützer? Anton am Anfang und Anton am Schluss. Er saß an der Theke mit dem Rücken zur Tür. Edmund drückte behutsam die Türklinke herunter, öffnete einen winzigen Spalt und beobachtete die Gestalt an der Theke. Sie regte sich nicht. Die Musik umfing ihn volltönend, überspielte jedoch nicht die Geräusche aus der Küche, in der Geschirr klapperte und eine Maschine surrte. Er vergrößerte den Türspalt peu à peu, ohne den Blick von Anton zu wenden, bis er hindurchschlüpfen und sie hinter sich schließen konnte. Mit schnellen Schritten auf nackten Sohlen war er hinter der Säule, konnte sich ducken und sein Versteck beziehen.
    War Mitternacht vorüber? Edmund konnte aus seiner Perspektive die Digitalanzeige an der Decke nicht sehen. Zusammengekauert unter dem nicht besonders großen Tisch war die Körperhaltung äußerst unbequem und binnen Kurzem schlief sein linkes Bein ein. Das erinnerte ihn daran, dass er zu Wadenkrämpfen neigte. Nicht auszudenken, wenn sich jetzt und hier solch einer einstellte. Im nächsten Augenblick hatte er andere Sorgen. Die Tür ging auf und vier Beine liefen im Abstand von zehn Metern an seinem Unterstand vorbei in den Saal. Nicht auszudenken, wenn die späten Gäste nun ein reiches Menü orderten und die Küche sich darauf einließe. Das konnte seinen Zeitplan empfindlich stören. Er hörte die Gäste mit Anton sprechen, verstehen konnte er nichts. – Doch die Besucher verließen zusammen
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