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Rembrandts Vermächtnis (German Edition)

Rembrandts Vermächtnis (German Edition)

Titel: Rembrandts Vermächtnis (German Edition)
Autoren: Alexandra Guggenheim
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mein Gesicht, ein Paar Regentropfen vielleicht. Oder Tränen.
    Kurz bevor ich das Stadttor erreichte, sah ich einen Mann, der mit gebeugtem Rücken an einer Hauswand lehnte. Dabei stützte er sich auf einen Stock. Er trug einen durchlöcherten Umhang und zerschlissene Schuhe, die ihm viel zu groß waren. Anstelle von Beinlingen hatte er sich Streifen von Lumpen um die Beine gewickelt. Er wirkte erschöpft und wollte sich wohl für einen Moment ausruhen. Als er mich erblickte, rappelte er sich erschrocken hoch und schwang seine Lazarusklapper, um mich zu warnen.
    Das Geräusch der aneinander schlagenden Hölzer hatte eine Gruppe von Kindern aufmerksam gemacht. Sie waren gerade dabei, einen Haufen aus Laub und Pferdeäpfeln vor einer Haustür aufzuschichten. Sofort kamen sie schreiend angelaufen, hielten aber einige Meter Abstand, weil sie seinen Aussatz fürchteten. Sie spuckten auf den Boden, schnitten Grimassen und tanzten wie Kobolde umeinander.
    „Klapperläufer, bleib steh’n, darfst nicht durch meine Straße geh’n, der Hund soll dich beißen, die Katz soll ich kratzen, scher dich weg!“, sangen sie entsetzlich schrill und falsch.
    Bisher hatte ich die Leprakranken immer gemieden. Aber diesmal wich ich nicht auf die andere Straßenseite aus, sondern ging direkt auf den Mann zu. Aus meiner Gürteltasche holte ich die fünfundzwanzig Gulden des Polizeihauptmanns. Ich drückte sie dem Aussätzigen in die Hand, an der er nur noch zwei gekrümmte Fingerstümpfe hatte. Argwöhnisch starrte der Mann auf die glänzenden Münzen, dann sank er auf die Knie. Er rief mir etwas hinterher, doch ich konnte ihn nicht mehr verstehen. Die dicken Mauern des Stadttores hatten seine Worte bereits geschluckt.
    Über einen schmalen, holprigen Feldweg lief ich die Zuiderzee entlang, Richtung Osten, ohne mich noch ein einziges Mal umzuschauen. Ein Gemüsehändler, der mit seinem Fuhrwerk auf dem Weg nach Hardenwijk war, nahm mich ein Stück mit. Am Mittag tauchte in der Ferne der Kirchturm von Muiderkamp auf, meinem Heimatdorf.

    Muiderkamp, Juni 1670
    Meine Eltern und Geschwister waren überrascht, aber auch glücklich, als sie mich wieder in die Arme schließen konnten. Fast ein Jahr war ich von zu Hause fort gewesen, doch es kam mir weitaus länger vor. Kurz vor meiner Rückkehr war Pastor Goltzius nach einem Fieberanfall gestorben. Sein Nachfolger war ein guter Prediger, wenn auch kein Kunstfreund.
    Sonst hatte sich bei uns im Dorf nicht viel verändert. Ich ging wieder zu meinem Onkel in die Werkstatt, nähte Sonntagsröcke und Schürzen, plättete Hemden und Kragen. Nun war ich bereit, mich in mein Schicksal zu fügen und gab mir große Mühe, ein tüchtiger Schneider zu sein. Mit meinem Lohn konnte ich dazu beitragen, dass unsere Familie einmal in der Woche Fleisch zu essen hatte und dass in unserer Stube in der kalten Jahreszeit jeden Tag von morgens bis abends das Feuer im Kamin brannte.
    Die Zeit in Amsterdam hatte mich verändert. Als ich von hier fortgegangen war, hatte ich davon geträumt, ein berühmter Maler zu werden, ein Porträtist der Reichen und der Vornehmen. Jetzt aber kam mir dieser Traum nichtig und hohl vor. Ich hatte gelernt, dass die Menschen nicht das waren, als was sie erschienen. Unter einem seidenen Wams konnte ein kaltes Herz schlagen, hinter der milden Miene eines Gelehrten ein skrupelloser Forscher stecken.
    Oftmals wanderte ich alleine durch die Gegend. Ging den kleinen Kanal, an dessen Ufer sich Schilfgräser im Herbstwind bogen, entlang hinauf auf den Deich. Von dort blickte ich auf die wogende Zuiderzee, auf der im Frühjahr wieder die Handelsschiffe der Verenigde Oostindische Compagnie zu sehen sein würden, wie sie zu einer weiten Reise aufbrachen oder von ihr zurückkehrten.

    Als der Schnee geschmolzen war, begann die Zeit, in der mein Vater die Blumenfelder bestellen musste. An manchen Tagen half ich ihm dabei. Wenn sein Rücken schmerzte, nahm ich die Schaufel, grub die Erde um und lockerte sie danach mit dem Rechen auf. Dann lud ich Kompost, Tulpenzwiebeln und Sprösslinge auf eine Handkarre, damit er die Beete herrichten konnte. Fiel einmal nicht genügend Regen, schaffte ich Wasser aus dem kleinen Kanal heran, und wir gossen gemeinsam die Setzlinge.
    Bald schon öffneten die ersten Blüten die Köpfe und zeigten ihre Farbenpracht: Zinnerarien, Gloxinien und orientalischer Mohn. Früher war mir nie aufgefallen, wie verschiedenartig Blumen sind, wie viel Schönheit und Zauber in dem
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