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Reise zu Lena

Reise zu Lena

Titel: Reise zu Lena
Autoren: Alfred Neven DuMont
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längst hatte ich zu atmen aufgehört. Meine Sinne waren in ungeahnter Macht ausgebrochen, hatten mich mit einer ungeahnten Wucht gepackt, mich geradezu in Wahnsinn versetzt. War der Mann, der hier an der der Tür im zerknitterten Schlafanzug und mit wirren Haaren stand und gierig ins Bad starrte, war das ich? War das wirklich der Mann, der ich bislang zu sein glaubte? Wer war ich nun? Der, der ich mein Leben lang gewesen zu sein glaubte und der nimmermehr zu so einer umwerfenden Regung fähig war, wie sie mich jetzt umfing? Woher kam dieser hechelnde Wolf, der so jählings von mir Besitz ergriffen hatte, der seiner Beute auflauerte. Glorie hatte mit einem Badetuch ihre Haut von oben bis unten abgetupft und es dann fest um ihren Körper geschlungen.
    Ihre Augen sahen in den Spiegel vor ihr an der Wand, der im heißen Badezimmer langsam wieder klar wurde. Dort trafen sich unsere Blicke. Wir schauten uns in dem Spiegel an, regungslos, immer noch ohne ein Wort. Ich war wie gelähmt. Wie lange wusste sie von mir? Wie lange stand ich wohl hier? Wieviel Zeit war vergangen? Ihr Gesicht, nun weniger fremd als zuvor, immer noch in tiefen Ernst getaucht, fand sie endlich das erlösende Wort:
    »Komm doch herein!«
    Ihre Stimme klang wie von ganz weit her. Ihre Hand wies mich auf einen nahestehenden Hocker, auf den ich mich fügsam kauerte, den Blick auf den Boden gerichtet, wo ich ihre Füße wahrnahm. Wie klein, wie unschuldig sie sich ausmachten. Was hätte ich anderes tun können? Wenn ich ein, zwei Wörter fand, dann waren sie ohne Zusammenhang, eine Frage vielleicht, vielleicht auch nicht. Sie sagte:
    »Du siehst müde aus! Du solltest schlafen gehen.«
    In der Tat, jetzt wo sie es aussprach, überfiel mich eine Müdigkeit, die mir fast das Bewusstsein raubte. Sie, diese Frau, meine Tochter, schien eine magische Kraft über mich zu besitzen. Sie fuhr fort, schon fast wieder geschäftig wie am Tag, indem sie mit einem Kamm durch ihre langen Haare glitt:
    »Warum ich mich dusche, so mitten in der Nacht? Ist es das, was Du wissen willst? Ich fühlte mich so schmutzig. Ich fühle mich oft so schmutzig, seitdem ich eine Frau bin.«
    Noch einmal ermahnte sie mich, schlafen zu gehen. Ich riss mich zusammen, kam irgendwie auf die Beine und schlich, nun wieder der alte Mann, wie er gekommen war, gebrochen und von einer ungeahnten Traurigkeit erfasst, nach unten. Von oben sah ich sie, immer noch in das große Handtuch gehüllt, wie sie mir zuwinkte:
    »Sorg Dich nicht, Vater! Sei froh!«
    Darauf lag ich lange wach und starr auf meinem Bett, das mir auf einmal so schmal erschien, Tränen standen in meinen Augen: Wie sollte ich ohne Sorgen sein können? Wie konnte ich froh sein? Ich, der ich diese Frau begehrt hatte, mit einer Wucht, wie ich sie nie zuvor gekannt hatte. Ich, ein losgelassenes Tier, das seine eigene Tochter begehrt. Immer wieder fuhren die Bilder und Gedanken wie Blitze durch mein Gehirn: Schuld! Wie konnte ich mich je von dieser Schuld befreien? Wie konnte ich je wieder ein sorgenloser Mensch werden, wie es mir Glorie zugerufen hatte. Machte ich mich schuldig an dem Schicksal meiner Tochter? Bin ich schuldig an ihr?«
    Albert atmet tief durch. Er horcht zu ihr herüber, aber sie sagt nichts. Warum, denkt er, sagt sie nichts?
    »Warum sagst Du nichts?«
    Lena lässt sich Zeit, scheint nachzudenken. Endlich:
    »Dazu ist wenig zu sagen. War es nicht Glorie selbst, die meinte: Sorg Dich nicht, Vater! Ist das nicht Antwort genug? Schlafjetzt! Lass die Erinnerung ruhen!«
    Am nächsten Morgen ist alles anders. Beide spüren, wie die Zeit wieder in ihr Leben eingegriffen hat. Beim Frühstück finden sie keine Worte, sie, die sich in den Tagen zuvor so viel mitzuteilen hatten. Nein, es gibt nichts mehr zu sagen. Die Liebe ist von gestern, die sich überschlagenden Gefühle sind erstarrt. Ihre Freundlichkeiten und Aufmerksamkeiten sind wie vergessen. Wie Fremde belauern sie sich gegenseitig. Vor allem Lena ist auf der Hut: Was hat er vor? Jede Regung von ihm wird ins Visier genommen. Als er sich schließlich langsam erhebt, folgen ihm unsicher ihre Blicke. Ohne ein Wort geht er aus der Küche. Lena hört, wie er die Haustür öffnet, hört, wie die Haustür wieder ins Schloss fällt. Sie sitzt weiter am Frühstückstisch, wie gebannt, erblickt ihn draußen im Garten, wie er bedächtig auf und ab geht auf der Wiese. Er scheint sich wohl zu fühlen, ohne sie. Bläst er die Backen auf, wie es seine Art ist, wenn er frische Luft
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