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Reise in die Unterwelt

Reise in die Unterwelt

Titel: Reise in die Unterwelt
Autoren: Michael Shea
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Zuerst war dieses Gefühl nur vage. Er wunderte sich, daß die Bruderschaft in keiner Eile schien und so sorglos war. Wie leicht konnte der Feind Späher ausgesandt haben!
    Am fünften Tag verstärkte sich sein Unbehagen. Während einer Rast sah er einen der Unterführer ausrutschen, als er aus einer Quelle trinken wollte. Dabei rutschte ihm die Kapuze herab und entblößte am Hinterkopf eine Kupferscheibe, die im Haar festgesteckt war. Jetzt erst wurde Cugel bewußt, daß er bisher nie einen der Führer ohne Kopfbedeckung gesehen hatte. Aber es war weniger diese Entdeckung, auf die er sich keinen Reim machen konnte, die sein Unbehagen erhöhte, sondern der wilde Blick, den der Unterführer ihm zuwarf, als er sah, daß Cugels Augen auf ihm ruhten.
    Am darauffolgenden Tag machte er eine weitere Entdeckung. Als er sich unbeobachtet wähnte, öffnete er eine der Truhen, die angeblich die später auszuhändigenden Waffen für die neuen Rekruten enthielten. Sie war mit Steinen gefüllt, genau wie alle anderen auch, wie er sich sofort vergewisserte.
    In unguten Gedanken versunken, wanderte er aus dem Lager. Er achtete nicht auf den Weg und stand plötzlich am Rand eines überhängenden Felsens. Erschrocken ließ er sich auf die Knie fallen und spähte über den Rand hinab, als er ein bedrohliches Knurren hörte. Ein Erb lauerte auf etwas, das Cugel nicht sehen konnte, weil es sich offenbar direkt unter dem Überhang befand. Ein zweiter Erb kam mit dem Hinterteil voraus in Sicht und schloß sich dem ersten an. Die für Cugel nicht sichtbare Beute flößte den gefährlichen Raubtieren offenbar Respekt ein. Beide knurrten und brüllten, zögerten aber, erneut anzugreifen.
    Einen Augenblick später machte die Beute einen verzweifelten Versuch, der Falle, in der sie saß, zu entkommen. Es handelte sich um einen dürren Mann in zerlumptem Ledergewand. Er schien sich bewußt, daß das Zögern der Tiere nicht mehr lange anhalten würde, und trat mit gezogenem Schwert aus seinem Versteck.
    Die Erbs waren offensichtlich völlig ausgehungert. Aus ihren geöffneten Lefzen sickerte orangeroter Verdauungssaft, und ihre schuppigen Reptilleiber wanden sich in Krämpfen. Der Hunger war stärker als ihre Angst. Als der Mann auf sie einstürmte, setzten sie zum Gegenangriff an.
    Während Cugel fasziniert hinunterstarrte, gab der morsche Überhang nach. Er stürzte mit ihm herab. Heftig ruderte er mit den Armen, um sein Gleichgewicht zu behalten. Im gleichen Augenblick, als der Felsbrocken den hinteren Erb erschlug, flog Cugel durch die Luft und landete geradewegs auf dem vorderen. Beide gingen zu Boden. Cugel sprang auf und zog blindlings seine Klinge. Er stieß sie dem halbbetäubten Tier in den dicken Hals.
    »Großartig!« rief der Fremde. Er steckte sein Schwert in die Scheide zurück und kam näher. »Ich verdanke Euch mein Leben.«
    Cugel wehrte bescheiden ab, nahm jedoch die Einladung des anderen an. Er begleitete ihn zu seiner weltabgeschiedenen Steinhütte, die mit dem Fels dahinter verschmolz und aus mehr als dreißig Schritten kaum zu erkennen war. Nach einem ausgiebigen Frühstück aus frischem Lauch und Käse deutete der Gastgeber bedauernd um sich. »Wie Ihr seht, bin ich nicht mit Schätzen gesegnet, deshalb weiß ich nicht, wie ich Euch Eure heldenhafte Tat vergelten kann.«
    Cugel blickte sich neugierig um. Überall lagen gebleichte Gebeine, Schädel, Kristalle und Kräuter. »Was macht Ihr mit diesem Zeug?« fragte er den dürren Mann.
    »Ich bin Beinschnitzer – früher einmal ein sehr geachtetes Handwerk, doch heutzutage befaßt sich kaum noch einer damit. Ich mache Gebrauchsgegenstände aus Knochen und Mineralen. In Grag gibt es immer noch Kenner, die diesen Artefakten Zauberkraft zuschreiben. An sie verkaufe ich meine Kunstwerke und lebe von ihrem Erlös, allerdings mehr schlecht als recht. Gerade die Hügel, die Ihr mit Eurer Karawane überquert habt, sind reich an Erb- und Grueschädeln, aus denen ich Trinkbecher arbeite. Wißt Ihr denn nicht, daß jetzt die Jahreszeit beginnt, die diese Raubtiere hierherbringt? Besonders von den Erbs kommen täglich neue. Eure fröhliche Gesellschaft befindet sich schon seit Tagen in Gefahr, von hinten angefallen zu werden.«
    Cugel hob die Brauen. »Ihr wißt von der Expedition? Aber weshalb warntet Ihr uns dann nicht?«
    »Ich mische mich nicht gern in fremde Angelegenheiten und bin wohl auch ein wenig menschenscheu.«
    Cugel nickte, dann seufzte er. »Ich kann mir vorstellen, wie
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