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Reise in die Niemandswelt

Titel: Reise in die Niemandswelt
Autoren: Wim Vandemaan
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nach dem anderen entstieg der Dunkelheit, Tausende farbige Lämpchen leuchteten. Motoren sprangen an, Karussells gingen in Betrieb.
    Noch war er der einzige Gast.
    Er stand vor einem Zelt. Hinter den Vorhängen aus Fäden, auf die unzählige Glasperlen aufgezogen waren, schimmerte ein schwaches Licht. Er las das verblichene, handgemalte Reklameschild über dem Zelteingang: »Madame Lali Adonay höflichst was auf Euch Zukunft weiszusagen sich anempfiehlt gegen 1 Silbergoschen pro Persona bittschön.«
    Das ist doch mal ein Wort, dachte er und betrat das Zelt.
    Ein niedriger Tisch, zwei Kerzen. Sie saß auf einem Kissen aus vielfach gestopftem Plüsch über ein altes Pergament gebeugt, in der Hand einen halbkugelförmigen Lesestein aus rotem Beryll.
    Sie sah nicht auf, als er eintrat.
    Er wartete eine Weile, dann räusperte er sich.
    »Hab ihn schon gesehen, Jungelchen«, murmelte sie, blickte aber nicht von ihrer Lektüre hoch. »Weiß schon, dass in seinem Alter man glaubt, dass die Zeit drängt. Gedulde er sich.« Im Licht der Kerzen hatte er gesehen, dass ihre Zähne aus Gold waren, ebenso das reiche, aber leichte Ohrgehänge und die vielfach übereinandergleitenden Ketten um ihren Hals.
    »Ich will nicht stören«, sagte er.
    »Stört er nicht«, sagte sie und las in aller Ruhe weiter.
    Rhodan sah sich um, die Hände im Rücken verschränkt. »Ich gehe«, sagte er. »Ich hätte eh keinen Silbergroschen dabei, dich zu bezahlen.«
    »Tät ein halber reichen«, sagte die Wahrsagerin.
    »Habe ich auch nicht.«
    »Armes mittelloses Jungelchen«, seufzte sie. »Ohne Silbergroschen dunkle Zukunft.«
    Rhodan lachte leise. »Ja«, sagte er. »Das habe ich immer schon geahnt.«
    Endlich blickte sie auf. Unwillkürlich hielt er den Atem an. Die Wahrsagerin war blind. Ihre Augen waren aus Glas roter, beinahe leuchtender Beryll.
    »Hast viele Zukünfte, Jungelchen«, sagte sie leise. »Ist, was Zukunft anbelangt, gar kein Mangel. Du willst wissen?«
    »Was?«
    »Weiß ich's? Ob du wirst glücklich sein? Ob du wirst treffen Liebe deines Lebens nächstes Jahr? Ob du wirst haben Enkel und Urenkel und ob die Engel werden haben ein Auge auf die Schar?«
    Rhodan lächelte. »Wer will das nicht wissen?«, sagte er. »Und du wirst mir sagen, was ich hören will, vermischt mit einem Tropfen Wermut, dass ich's glaube.«
    »Wermut ist gut«, sagte sie und grinste. »Gegen Blähungen. Du sorgst dich wegen Blähungen?«
    Er lachte. »Ist nicht meine größte Sorge.«
    »Da wir sprechen von Wermut ... « Sie hatte eine Flasche unter dem Tisch hervorgezogen, entkorkte sie, stellte zwei Gläser dazu und schließlich einen hohen Wasserbehälter mit vier Zapfhähnen.
    Sie goss ein smaragdgrünes Getränk in die Gläser und legte anschließend einen Löffel quer über jedes Glas. Der Löffel war kunstvoll geschlitzt; die Schlitze ähnelten züngelnden Flammen. Die Wahrsagerin entnahm einer kleinen silbernen Dose zwei Zuckerwürfel. Sie platzierte die weißen Würfel auf die Löffel, schob jedes Glas unter einen Zapfhahn und öffnete ihn. Wasser tropfte auf die Zuckerwürfel, löste den Zucker und nahm ihn mit in die gelbe Flüssigkeit, zog darin eine milchige Spur und trübte das klare Grün des Getränkes allmählich ein.
    »Absinth?«, riet Rhodan.
    »Voller Wermut«, sagte die Wahrsagerin. »Trifft das seinen Geschmack, Jungelchen?«
    Rhodan schüttelte den Kopf. »Eher nicht. Ich behalte für das, was kommt, lieber einen klaren Kopf.«
    »Das ist sehr weise«, sagte die Frau, nahm ihr Glas und trank es in wenigen, glucksenden Schlucken leer. »Sollte an meiner Stelle hier sitzen. Du hast doch nichts dagegen?«, fragte sie, griff nach dem Glas, das er abgelehnt hatte, und trank auch das aus.
    »Macht 22 Galax.«
    »Aber du hast mir gar keine Zukunft vorausgesagt«, protestierte er.
    »Ist für den Absinth«, sagte sie. »Zukunft kommt kostenlos, hör zu: Lade dir die Last auf, und sie wird dich tragen.«
    »Klingt wie die Botschaft aus einem Glückskeks«, sagte Rhodan.
    »Ist es auch«, sagte die Wahrsagerin. »Esse ich eben gerne chinesisch und liebe es, mit kleinen Glückskuchen zu parlieren.« Sie kicherte. »Manche von ihnen haben ziemlich was drauf.«
    Rhodan seufzte, drehte sich um und verließ das Zelt. Zeitvergeudung.
    Der Kirmesplatz hatte sich in der Zwischenzeit wunderbar belebt. Gruppen von jungen Männern spazierten von Bude zu Bude, Familien mit zwei, drei und mehr kleinen Kindern, frisch verliebte Pärchen.
    Alle gingen ohne
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