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Reise im Mondlicht

Titel: Reise im Mondlicht
Autoren: Antal Szerb
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den Tod getrieben zu haben, als sie noch ganz jung war. Das war mein erstes überraschendes Erlebnis im
     Ulpius-Haus, gleich beim ersten Besuch. Éva sagte von ihrem Vater, er habe Augen wie Schuhknöpfe – womit sie übrigens völlig
     recht hatte   –, während Tamás im natürlichsten Ton der Welt sagte: ›Weißt du, mein Vater ist ein äußerst widerwärtiger Geselle‹, was ebenso
     zutraf. Ich kam, wie du ja weißt, aus einer Familie mit starkem Zusammenhalt, ich liebte meine Eltern und Geschwister, meinen
     Vater vergötterte ich, und ich konnte mir gar nicht vorstellen, daß Kinder und Eltern einander nicht liebten oder daß Kinder
     das Verhalten der Eltern beurteilten, als wären es fremde Menschen. Das war die erste wahre Rebellion, der ich im Leben begegnete.
     Und seltsamerweise war sie mir hochsympathisch, obwohl es mir selbst überhaupt nicht in den Sinn gekommen wäre, mich gegen
     meinen Vater aufzulehnen.
    So sehr Tamás Ulpius seinen Vater haßte, so sehr liebte er seinen Großvater und seine Schwester. Die liebte er so, daß auch
     das schon etwas Rebellisches hatte. Auch ich liebte meine Geschwister, stritt mit ihnen nicht allzu oft und nahm die familiäre
     Solidarität ernst, so weit mein eigenbrötlerisches, zerstreutes Naturell mir das erlaubte. Aber bei uns war es nicht Sitte,
     einander die Zuneigung offen zu bekunden, wir hielten derartige Zärtlichkeiten für lächerlich und peinlich. Ich glaube, das
     ist in den meisten Familien so. Zu Weihnachten schenkten wir einander nichts; wenn einer von uns ausging oder nach Hause kam,
     grüßte er nicht, und wenn wir auf Reisen waren, schrieben wir nur den Eltern ehrerbietige Briefe und fügten am Schluß hinzu:Péter,
     Laci, Edit und Tivadar lasse ich grüßen. Das war bei den Ulpius ganz anders. Die beiden Geschwister sprachen mit erlesener
     Höflichkeit zueinander, und zum Abschied küßten sie sich gerührt, auch dann, wenn |25| sie nur auf eine Stunde weggingen. Wie ich später merkte, waren sie höllisch eifersüchtig aufeinander, und das war hauptsächlich
     der Grund, warum sie sonst keine Freunde hatten.
    Sie waren Tag und Nacht zusammen. Wirklich, auch in der Nacht, denn sie schliefen im selben Zimmer. Das kam mir am merkwürdigsten
     vor. Bei uns war Edit im Alter von zwölf Jahren von den Jungen getrennt worden, und von da an hatte sich um sie herum ein
     eigenes Frauenabteil gebildet, es kamen Freundinnen, aber auch Freunde zu ihr, die wir nicht kannten, und sie unterhielten
     sich mit Spielen, die wir zutiefst verachteten. Die Tatsache, daß Tamás und Éva im selben Zimmer wohnten, kurbelte meine Halbwüchsigenphantasie
     ziemlich an. Irgendwie verwischte sich damit der Geschlechtsunterschied zwischen ihnen, und beide nahmen in meinen Augen einen
     leicht androgynen Aspekt an. Mit Tamás redete ich im allgemeinen so taktvoll und schonend, wie man es mit Mädchen zu tun pflegt,
     in Évas Gegenwart hingegen spürte ich nicht die gelangweilte Anspannung, in die mich Edits offiziell als Mädchen deklarierte
     Freundinnen versetzten.
    An den Großvater, der zu den unmöglichsten Zeiten, oft mitten in der Nacht, und in den unwahrscheinlichsten Aufmachungen,
     in Schlafröcken und Hüten, ins Zimmer der Geschwister geschlurft kam, gewöhnte ich mich nur schwer. Die beiden brachten ihm
     jedesmal rituelle Huldigungen dar. Anfänglich langweilten mich die Geschichten des alten Herrn, ich verstand sie auch nicht
     recht, denn der Alte, der von Köln nach Ungarn eingewandert war, sprach deutsch, mit einem leichten rheinländischen Akzent.
     Doch später kam ich auf ihren Geschmack. Der Großvater war ein wandelndes Lexikon, was das alte Budapest betraf. Für mich,
     den Liebhaber der Straßen und Häuser, das große Los. Er kannte die Geschichte von allen Häusern und Hausbesitzern auf der
     Burg. Und so wurde das ganze Burgviertel, das ich bis dahin nur vom Sehen gekannt hatte, allmählich zu einem persönlichen
     Freund.
    Ihren Vater hingegen haßte auch ich. Ich erinnere mich nicht, je mit ihm gesprochen zu haben. Wenn er mich zu Gesicht bekam,
     knurrte er bloß und wandte sich ab. Die beiden Ulpius litten |26| entsetzlich, wenn sie mit ihm zu Abend essen mußten. Sie aßen in einem großen Raum, und keiner sagte ein Wort. Und dann saßen
     die beiden Geschwister beisammen, und der Vater ging in dem Riesenzimmer, das nur von einer einzigen Stehlampe beleuchtet
     war, auf und ab. Wenn er am anderen Ende des Saals anlangte,
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