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Reise im Mondlicht

Titel: Reise im Mondlicht
Autoren: Antal Szerb
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verschwamm seine Gestalt mit dem Dunkel. Und wenn die Geschwister
     etwas zueinander sagten, kam er herbei und fragte feindselig: ›Was redet ihr da?‹ Aber zum Glück war er selten zu Hause. Er
     saß allein in kleinen Gastwirtschaften und betrank sich mit Pálinka, wie die Bösewichte.
    Als wir uns kennenlernten, arbeitete Tamás gerade an einer religionsgeschichtlichen Studie. Die Studie hatte seine Kindheitsspiele
     zum Inhalt. Aber er erarbeitete das Thema anhand der Methode der vergleichenden Religionsgeschichte.Eine ganz seltsame Angelegenheit,
     halb eine Parodie der Religionswissenschaft, halb eine todernste Studie über ihn selbst.
    Tamás hatte genauso eine Vorliebe für das Alte wie ich. Bei ihm war es ja auch kein Wunder: Da war der Beruf des Vaters, und
     die Wohnung sah ja auch wie ein Museum aus. Für Tamás war das Alte das Natürliche, während ihn alles Moderne befremdete. Ständig
     sehnte er sich nach Italien, wo alles alt und nach seinem Geschmack wäre. Und jetzt sitze ich hier, und er hat es nie geschafft   … Mein Hang zu den alten Dingen ist eher nur ein passives Genießen und eine intellektuelle Sehnsucht nach Erkenntnis, während
     er bei Tamás einer Tätigkeit der Phantasie entsprach.
    Fortwährend führte er die Geschichte auf.
    Das mußt du dir so denken, daß das Leben der beiden Geschwister im Ulpius-Haus ein Theater war, eine dauernde Commedia dell’arte.
     Der geringste Anlaß genügte, und schon ging es los, das Spiel, wie sie es nannten. Der Großvater erzählte etwas von einer
     auf der Burg wohnenden Gräfin, die in ihren Kutscher verliebt gewesen war, und gleich war Éva die Gräfin und Tamás der Kutscher;
     oder er erzählte, wie der Kurienrichter Majláth von seinen walachischen Dienern ermordet worden war, und schon war Éva der
     Richter und Tamás die walachischen Diener; oder es entstanden lange, komplizierte historische Horrordramen in Fortsetzungen |27| . Die Ereignisse wurden dabei natürlich nur in groben Zügen skizziert, so wie in der Commedia dell’arte: Die Kostüme wurden
     mit ein, zwei Kleidungsstücken angedeutet, die hauptsächlich aus dem unerschöpflichen Fundus des Großvaters stammten, der
     Dialog war nicht lang, aber barock verschroben, und am Ende kam der Mord oder Selbstmord. Denn wenn ich zurückdenke, fällt
     mir auf, daß sich diese improvisierten Theaterstücke immer auf einen gewaltsamen Tod hin zuspitzten. Mindestens einmal täglich
     wurde erwürgt, vergiftet, erstochen oder in Flammen geröstet.
    Ihre Zukunft konnten sich Tamás und Éva nur beim Theater vorstellen, wenn sie überhaupt an ihre Zukunft dachten. Tamás wollte
     sich zum Dramatiker ausbilden, Éva zu einer großen Schauspielerin. Ausbilden ist zwar nicht das richtige Wort, denn Tamás
     schrieb nie ein Stück, und Éva fiel es gar nicht ein, daß sie eine Schauspielakademie besuchen müßte. Aber mit um so größerer
     Leidenschaft gingen sie ins Theater. Ausschließlich ins Nationaltheater, denn die leichte Muse war Tamás genauso zuwider wie
     die moderne Architektur. Am meisten mochte er die klassischen Dramen, in denen es ja an Morden und Selbstmorden nicht fehlt.
    Doch für die Theaterbesuche brauchte es Geld, und ihr Vater gab ihnen, glaube ich, überhaupt kein Taschengeld. Einige bescheidene
     Einkünfte bezogen sie von der Köchin, der schlampigen Besorgerin ihrer irdischen Notdurft, die zugunsten der Jugend ein paar
     Fillér vom Haushaltsgeld abzweigte. Und vom Großvater, der aus geheimnisvollen Quellen zuweilen ein paar Kronen hatte; ich
     glaube, er verdiente sie mit Uhrmacher-Schwarzarbeit. Aber das alles reichte natürlich nicht, um die Theaterleidenschaft der
     beiden Ulpius zu befriedigen.
    Um die Geldbeschaffung mußte sich Éva kümmern. Vor Tamás durfte man das Wort Geld nicht aussprechen. Also tat Éva das ihre,
     und sie war außerordentlich erfinderisch. Alles, was sie verkaufen konnte, schlug sie zu einem guten Preis los; gelegentlich
     waren auch die musealen Gegenstände des Hauses darunter, aber das war wegen des Vaters sehr riskant, und auch Tamás beschwerte
     sich, |28| wenn eine vertraute Antiquität fehlte. Manchmal nahm Éva an den seltsamsten Orten Darlehen auf, beim Gemüsehändler, in der
     Konditorei, in der Apotheke, ja sogar auch beim Einnehmer der Elektrizitätsrechnung. Und wenn das alles nicht half, stahl
     sie. Sie stahl von der Köchin und, mit Todesverachtung, auch von ihrem Vater, wenn er betrunken war. Das war noch die
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