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Reise im Mondlicht

Titel: Reise im Mondlicht
Autoren: Antal Szerb
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solcher Anfälle. Einer war besonders unangenehm, denn er kam in einer Schulstunde, in der Naturkunde. Gerade hatte sich
     die Erde neben mir aufgetan, als ich aufgerufen wurde. Ich rührte mich nicht, saß einfach an meinem Platz. Der Lehrer rief
     noch ein Weilchen meinen Namen, und als er sah, daß das nichts nützte, stand er auf und kam zu mir. ›Was hast du?‹ fragte
     er. Natürlich gab ich keine Antwort. Er musterte mich eine Weile, dann ging er zum Katheder zurück und rief einen anderen
     auf. Er war eine feine Priesterseele und erwähnte auch später den Vorfall nie. Um so mehr erwähnten ihn meine Klassenkameraden.
     Sie dachten, ich hätte aus Trotz und Rebellion nicht geantwortet, und der Lehrer hätte Angst bekommen. Auf einen Schlag war
     ich ein toller Hecht, und mein Ruhm verbreitete sich in der ganzen Schule. Eine Woche danach rief derselbe Lehrer János Szepetneki
     auf. Den Szepetneki, den du heute gesehen hast. Szepetneki setzte sein verwegenstes Gesicht auf und rührte sich nicht. Darauf
     erhob sich der Lehrer, ging zu ihm hin, und gab ihm eine mächtige Ohrfeige. Von da an war Szepetneki überzeugt, daß ich höhere
     Protektion genoß.
    Aber zurück zu Tamás Ulpius. Eines Tages fiel der erste Schnee. Ich konnte es kaum erwarten, bis die Schule aus war und ich
     mein Extramittagessen hinuntergeschlungen hatte, um dann gleich auf die Burg hinaufzulaufen. Schnee war eine besondere Leidenschaft
     von mir, schon weil die Stadtviertel im Schnee ganz anders aussahen, so anders, daß man sich in den vertrauten Straßen verirren
     konnte. Ich trieb mich lange umher, ging dann auf die Basteipromenade hinaus und starrte zu den Hügeln von Buda hinüber. Auf
     einmal tat sich wieder die Erde auf. Der Wirbel hatte diesmal immerhin etwas Plausibles, ich stand ja auf einer Anhöhe. Und
     da ich ihn schon mehrmals gesehen hatte, war ich nicht ganz so entsetzt, |23| ich wartete sogar mit einer gewissen Gelassenheit darauf, daß die Erde wieder zusammenwuchs und der Wirbel verschwand. So
     stand ich und wartete, ich weiß nicht, wie lange, denn in solchen Momenten hat man ja genausowenig ein Zeitgefühl wie im Traum
     oder während des Liebemachens. Sicher ist aber, daß dieser Wirbel viel länger dauerte als die früheren. Es dunkelte schon,
     und er war noch immer da. Der ist aber hartnäckig, dachte ich. Und da wurde ich mit Entsetzen gewahr, daß er wuchs, daß mich
     nur noch etwa zehn Zentimeter von seinem Rand trennten, daß er sich meinen Füßen näherte. Noch ein paar Minuten, und es ist
     aus, ich falle hinein. Ich griff krampfhaft nach dem Geländer.
    Und dann erreichte mich der Wirbel tatsächlich. Unter meinen Füßen rutschte die Erde weg, und ich hing über der Leere, an
     das Eisengeländer geklammert.Wenn meine Hände keine Kraft mehr haben, dachte ich, falle ich hinein. Und ich begann, dem Tod
     ins Auge zu blicken, resigniert und betend.
    Da merkte ich plötzlich, daß Tamás Ulpius neben mir stand.
    ›Was hast du?‹ fragte er und legte mir die Hand auf die Schulter.
    In dem Augenblick verging der Wirbel, und ich wäre vor Müdigkeit umgefallen, wenn mich Tamás nicht gestützt hätte. Er führte
     mich zu einer Bank und wartete, bis ich mich ein wenig erholt hatte. Da erzählte ich ihm vom Wirbel, zum ersten Mal in meinem
     Leben. Ich weiß gar nicht, wie es zuging – aber er wurde augenblicklich mein bester Freund. Der Freund, von dem halbwüchsige
     Jungen nicht weniger intensiv und tiefer und ernster träumen als von der ersten Liebe.
    Danach trafen wir uns jeden Tag. Tamás wollte nicht zu mir nach Hause kommen, er sagte, er möge sich nicht vorstellen lassen,
     hingegen lud er mich bald zu sich ein. So kam ich ins Ulpius-Haus.
    Die Ulpius wohnten im oberen Stock eines sehr alten, heruntergekommenen Hauses. Es war aber nur außen alt und heruntergekommen,
     innen war es sehr schön und wohnlich, so wie diese alten italienischen Hotels. Die Wohnung mit ihren riesigen Zimmern und
     Kunstgegenständen war zwar etwas unheimlich,wie ein Museum. Tamás’ Vater war Archäologe und Museumsdirektor. |24| Der Großvater war Uhrmacher gewesen und hatte sein Geschäft im Haus gehabt. Jetzt befaßte er sich nur noch zum Privatvergnügen
     mit alten Uhren und mit allerlei seltsamen Spielsachen, zu denen er das Uhrwerk selbst erfunden hatte.
    Tamás’ Mutter lebte nicht mehr. Er und seine Schwester Éva haßten ihren Vater, sie warfen ihm vor, mit seiner abweisenden
     Kälte die Mutter in
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